Immer mehr Unternehmen versprechen sich durch Selbstorganisation ein auf den ersten Blick simples Allheilmittel, um Mitarbeitenden mehr Erfüllung in ihrer Arbeit zu ermöglichen. Schließlich hält sich dadurch auch der übergreifende Organisationsaufwand in Grenzen – oder?
Das Problem
In den vergangenen Jahren keimten verschiedene Selbstorganisationsansätze auf, etwa die Holokratie. Spätestens die Pandemie fungierte als Booster. So gaben in einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und der Deutsche Gesellschaft für Personalforschung e.V. (DGFP) 51,5 Prozent der Befragten an, dass die meisten Beschäftigten in ihrer Organisation in den kommenden drei Jahren Entscheidungen selbst organisiert treffen werden (Hofmann et al. 2021). Selbstorganisation ist als Modell weit davon entfernt, ein klar definiertes Konstrukt zu sein. Trotz unterschiedlicher Ausgestaltung zielen alle Ansätze auf die eigenverantwortliche Steuerung der Mitarbeitenden ab. Prägend sind vor allem die Dezentralisierung von Autorität und das autonome Treffen von Entscheidungen (Lee / Edmondson 2017; Balogun / Johnson 2004; Manz 1986). Wer jedoch denkt, dass dies durch das Abschaffen von Hierarchieebenen einfach getan wäre, hat weit gefehlt. Untersuchungen zeigen: Die Realität der Selbstorganisation ist weitaus komplizierter.
Die Wissenschaft
Literatur über selbst gesteuerte Organisationen deutet darauf hin, dass sich Menschen in unterschiedlichem Maße in dezentralisierten Organisationssystemen wohlfühlen. Unabdingbar ist es also, zu verstehen, wie die Mitarbeitenden individuell auf Eigenverantwortung reagieren, um Maßnahmen für das Auffangen von Ängsten zu ergreifen. Selbstorganisation erfordert ein höheres Maß an psychologischer Entwicklung und zwischenmenschlicher Kompetenz. Sie braucht insbesondere die Befähigung, neue Konzepte von Autorität zu leben (Lee / Edmondson 2017). Die übergreifenden Herausforderungen, die sich aus einer Machtverschiebung in Organisationen ergeben, sind ebenso wenig trivial. Grundsätzlich besteht die Gefahr des Fortbestehens von informellen und formellen Hierarchien auch in selbst organisierten Umgebungen, die auf lange Sicht die formale Struktur untergraben. Diese zeigen sich häufig, wenn Unsicherheiten über Verantwortung, Entscheidungsbefugnisse oder ein Machtvakuum durch unzureichende Klärung von Autorität entstehen.
Die Praxis
Laut Lee und Edmondson (2017) ist das Festlegen von klaren Regeln essenziell, unter anderem für das Verteilen von Befugnissen und dezentralen Koordinationsmechanismen. Das formelle System kann zum Beispiel eine gemeinsam entwickelte Verfassung oder ein Mitarbeitendenhandbuch sein. Die Unternehmensberatung HRpepper führte bereits vor einigen Jahren ein an Selbstorganisation angelehntes Organisationsmodell ein. Die Mitarbeitenden sind maßgeblich für ihre eigene Arbeitsgestaltung verantwortlich – und hoch motiviert. Voraussetzung dafür sind verschiedene Mechanismen zur Unterstützung wie Level-interne Steuerungsrunden zur Aufgabenverteilung. Selbstorganisation verlangt von den Mitarbeitenden ein hohes Maß an Disziplin, Routinen und das Wissen um die Relevanz einer kontinuierlichen Reflexion für Lernprozesse der Organisation. Dazu gehört auch die Furchtlosigkeit, sich immer wieder gemeinsam mit organisatorischen Herausforderungen differenziert auseinanderzusetzen.
Literatur
Balogun, J. / Johnson, G. (2004): Organizational restructuring and middle manager sensemaking, in: The Academy of Management Journal, 47 (4), 523-549
Hofmann, J. / Piele, A. / Piele, C. (2021): Arbeiten in der Corona-Pandemie, Folgeergebnisse, Ausgestaltung des New Normal, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft / Deutsche Gesellschaft für Personalführung e.V.
Lee, M. Y. / Edmondson, A. C. (2017): Self-managing organizations: Exploring the limits of less-hierarchical organizing, in: Research in Organizational Behavior, 37, 35-58
Manz, C. C. (1986): Self-Leadership: Toward an expanded theory of self-influence processes in organizations, in: The Academy of Management Review, 11 (3), 585-600