Agiles Arbeiten fördert Innovationen und Leistung, Kundenorientierung und Mitarbeiterbindung gleichermaßen. Davon ist Sebastian Harrer, Director HR bei ING Deutschland, überzeugt. Bei der flächendeckenden Transformation zur agilen Bank blieb bei der ING kein Stein auf dem anderen. Getragen wurde die Transformation von einem stabilen Wertesystem und dem konsequenten Blick auf den Menschen, der Kultur und Arbeitsweisen prägt. Den ersten Bewährungstest hat die neue Organisationsstruktur in der Pandemie bestanden.
Dr. Sebastian Harrer studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften in Bonn, Paris und Sydney. Für seine Promotion hat er sich mit dem Zusammenhang zwischen Emotion und Motivation auseinandergesetzt. Nach dem Studium arbeitete Harrer in verschiedenen Positionen bei einer Beratung sowie in einem großen Technologiekonzern. Harrer ist seit Anfang 2018 Director HR für die ING in Deutschland und setzte mit neuen Denkansätzen für HR die Transformation der ganzen Bankenorganisation konsequent um. Ehrenamtlich engagiert er sich als Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk e.V. (ddn). Er ist Vater von drei Söhnen und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main.
Herr Dr. Harrer, im März 2018 begann der Wendepunkt für die ING Deutschland. Es wurde eine umfassende Transformation zur agilen Bank eingeleitet, die die Zusammenarbeit fundamental verändert hat. Was ist von der alten ING denn jetzt noch übriggeblieben?
DR. SEBASTIAN HARRER Unser Ziel war und ist es, die gesamte Organisation schneller, kundenzentrierter, flexibler, innovativer zu machen. Schon vor der Transformation bestand unser stabiles Wertesystem, der Orange-Code. Dieser basiert auf drei Kernwerten: Erstens, du nimmst die Dinge in die Hand und treibst sie voran. Also Eigeninitiative, Verantwortung übernehmen. Zweitens, du hilfst anderen, erfolgreich zu sein. Also kein Silodenken, sondern gemeinschaftlich Dinge bewegen. Und drittens, du bist immer einen Schritt voraus. Also innovativ vorausdenken. Diese Werte haben wir mit dem agilen Mindset zusammengebracht: flexibel und offen sein für Neues, schnell und in kurzen Frequenzen Dinge ausprobieren, ausliefern,natürlich lernen, die persönliche Entwicklung aller Mitarbeitenden stärken und in den Fokus rücken. Das ist das Fundament, auf dem wir aufbauen.
Wenn Sie die alte Organisation auflösen und die Mitarbeitenden auf Grundlage ihrer Stärken und Skills in die neue Organisation bewegen, dann heißt das erst mal, dass jeder einen neuen Job bekommt. Jeder. Trotzdem macht jeder oder jede irgendwie noch das Gleiche. Ein Java-Entwickler ist immer noch ein Java-Entwickler, aber in einem komplett neuen Umfeld mit neuen Kollegen, mit einer neuen Führungskraft, mit neuen Methodiken, mit neuen Schnittstellen. Nicht mehr im Silo, sondern Ende zu Ende. Für die Mitarbeitenden hat sich eigentlich alles verändert.
DREIKLANG AUS MINDSET, METHODIK, ORGANISATION
Wie ist es Ihnen gelungen, die Mitarbeiter auf diesem Weg mitzunehmen? Agilität funktioniert ja nicht auf Knopfdruck.
HARRER Wir glauben, dass agiles Arbeiten, so wie wir es verstehen, automatisch auch das Engagement von Mitarbeitenden fördert. Für uns ist es ein Dreiklang aus Mindset, Methodik und Organisation. Wir setzen auf Expertise einerseits und auf cross-funktionale Zusammenarbeit andererseits. Und das bedeutet auch, wir geben Eigenverantwortung ins Team. Die Teams sind dezentral und selbst organisiert. Damit bekommt jeder Einzelne und jede Einzelne im Arbeitsprozess sowie im Joballtag mehr Gestaltungsspielräume. Wir haben in der Transformation eine neue personelle Zuordnung nach Expertise und Aufgabe vorgenommen. Wer mit der Zuordnung zum Chapter oder Tribe unzufrieden war, konnte andere Präferenzen benennen. Dies war für die Akzeptanz auf Mitarbeiterebene wichtig. In 80 Prozent der Fälle konnten wir individuelle Jobwünsche erfüllen.
Von dem beschriebenen Wertesystem kommend, kann ich die Notwendigkeit für so einen tiefgreifenden Change nur vermitteln, wenn ich transparent bin und kontinuierlich und offen kommuniziere. Und ich kann Mitarbeitende nur mitnehmen auf den Weg, wenn ich auch Fairness für alle erlebbar mache. Mit diesem Fokus hatten wir von Anfang an einen klaren Schulterschluss mit unserem Mitbestimmungsgremium, das ja als eine der Anspruchsgruppen bei so einem tiefgreifenden Change zentral ist.
MARKENVERSPRECHEN GELTEN AUCH FÜR MITARBEITENDE
Auch die Kunden fühlen sich bei Ihnen gut aufgehoben. Das Wirtschaftsmagazin Euro hat Sie in diesem Jahr zum 15. Mal als beliebteste Bank ausgezeichnet, und da fällt doch eine Kontinuität auf – trotz Transformation. Haben die Kunden überhaupt etwas von den großen internen Umbrüchen mitbekommen?
HARRER Wir haben während dieser tiefgreifenden Veränderung weiterhin neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt und ausgeliefert. Unseren Kunden ist eigentlich egal, wie wir arbeiten. Für sie kommt es darauf an, dass sie ein gutes Produkt und eine gute Kundenerfahrung von uns bekommen. Aus diesem Grund haben wir ja die Transformation gemacht – um noch kundenorientierter zu werden und einen Vorsprung in der Innovation zu erreichen.
Auf die Auszeichnung sind wir alle im Hause sehr stolz. Sie belegt für uns den zentralen Wert der Kundenorientierung, und dass Agilität der richtige Weg für uns ist. Nicht als Selbstzweck, sondern als unsere Vision für die Zukunft, um relevant zu bleiben für die Kunden, um sich für Veränderungen vorzubereiten oder aufzustellen, um am Markt flexibler und schneller zu werden. Auch für die Mitarbeitenden ist Agilität ein Befähiger, um Herausforderungen wie Digitalisierung, gesellschaftliche Veränderungen oder Disruptionen wie der Pandemie zu begegnen.
In Ihrer Bank gelten im Umgang mit den Mitarbeitenden die gleichen Grundsätze wie im Umgang mit den Kunden. Wie hat diese Haltung die Beziehung von HR zu den Mitarbeitenden verändert?
HARRER Agiles Arbeiten heißt ja iterativ arbeiten und Feedback von allen Anspruchsgruppen einbeziehen. Als wir nach der Transformation in diesen Modus des Arbeitens kamen, haben wir uns bei HR die Frage gestellt, für welche Haltung wir stehen wollen. So ist unsere People Strategy entstanden, die – und das ist das Spannende – unsere vier Markenversprechen für unsere Bankkunden spiegelt. Diese sind: Clear & Easy, Anytime Anywhere, Empower und Keep Getting Better. Anytime Anywhere ist für eine Digitalbank logisch. Wir haben aber gesagt, das soll auch nach innen erlebbar werden. Wir müssen doch mit der gleichen Haltung und mit dem gleichen Angebot mit unseren Mitarbeitenden umgehen. Deswegen denke ich, dass der Rückbezug auf die Marke so wichtig ist. Beliebteste Bank, 15 Jahre in Folge, das setzt auch unglaubliche Identifizierungskräfte und Energien frei. Das hat meines Erachtens die Beziehung, die wir als HR zur Organisation haben, echt grundlegend verändert.
FLACHE HIERARCHIEN MIT ENDE-ZU-ENDE-VERANTWORTUNG
Sie haben die Abteilungen komplett abgeschafft. Wie funktioniert das Arbeiten in der neuen Organisationsstruktur?
HARRER Mit der agilen Organisation haben wir Verantwortlichkeiten, Wissen und Entscheidungskompetenzen auf viele Köpfe verteilt, wodurch natürlich auch ein neuer Bedarf für Abstimmungen und neue Routinen in der Arbeit entstanden ist. Letztendlich ist unsere Arbeit heute flexibler, weil in einem Squad, das cross-funktional aufgestellt ist, mehrere Mitglieder Aufgaben übernehmen können. Dadurch steigt auch die Liefergeschwindigkeit.
Wir haben die alte Organisation aufgelöst und sie in drei neue Säulen der Organisation überführt. Dazu gehören die Tribes, die jetzt die Business- und IT-Einheiten beheimaten. Dazu gehören die Centers of Expertise, wo jetzt Supportfunktionen und Expertenfunktionen beheimatet sind. Und dazu gehören Super Circles, in denen die Service- und Operationseinheiten aufgegangen sind. Allen gemeinsam ist, dass wir in flachen Hierarchien arbeiten, immer mit einem ganzheitlichen Blick und Ende-zu-Ende-Verantwortung. Es gibt keine Silos mehr, die vor oder nachgeschaltet sind. Unter dem Tribe Lead ist der Chapter Lead als Führungskraft verantwortlich für die fachliche Entwicklung der Mitarbeitenden, und im Tribe wiederum ist der Product Owner zuständig für die Koordination der Arbeit eines Squad, dessen Backlog und die zweiwöchigen Sprints. Alle Teams werden von Coachs begleitet, die bei der Anwendung agiler Methoden unterstützen und die den Führungskräften zur Seite stehen, damit alle durch Anwendung der Methoden effizient und wirksam sein können.
Welches sind jetzt die wichtigsten Aufgaben der Führungskräfte?
HARRER Wenn wir die Autonomie der Teams ernst nehmen, müssen wir Führung als gute Dienstleistung begreifen. In einer traditionellen Organisation haben Führungskräfte viele Managementaufgaben: planen, koordinieren, kontrollieren, sanktionieren. In unserem Führungsverständnis sind Führungskräfte vor allem dafür verantwortlich, Sinn zu stiften. Zusammen mit der Mitarbeiterentwicklung bildet dies aus der Führungsrolle heraus das Fundament, Menschen zu befähigen. Führungskräfte sind letztlich dafür da, Menschen zu befähigen. In unserer Arbeitsweise sind Führungskräfte aber auch Eskalationsinstanz. Sie mischen sich an dem Punkt ein, an dem sie einen Mehrwert bringen können.
Wo muss man genauer hinschauen, um bei der Transformationsdynamik nicht die Talente aus dem Blick zu verlieren, die man an Bord halten möchte?
HARRER Im Zuge der Transformation haben wir alle Führungsrollen neu ausgeschrieben, um sie nach dem agilen Führungsverständnis zu besetzen. Wir wollten, dass Menschen sich aus eigenem Antrieb bewerben, weil sie für diese Rolle brennen. Die Bewerbung stand jedem Mitarbeitenden offen.
Was hat das für die Organisation bewirkt?
HARRER Es war ein Musterbrecher. Dieses Vorgehen hat tatsächlich viele jüngere Talente, weniger Führungserfahrene, aber auch Mitarbeitende, die bisher noch gar keine Führungsverantwortung hatten, in höhere Führungsrollen gebracht. In einer agilen Organisation ist weniger klassisches Talentmanagement gefragt, sondern es kommt auf eine Pipeline von Talenten an, die auf Skills basiert.
Wie viele Führungskräfte haben Sie auf der Strecke verloren?
HARRER Es waren etwa 140, die nach dem offenen Bewerbungsprozess nicht mehr in Führungsverantwortung waren; davon haben uns etwa zwei Drittel verlassen. Von dem Drittel, das bei uns geblieben ist, haben einige als Experte ins Team gewechselt oder sind jetzt als Agile Coach tätig. Das ist ja eine neue Rolle, die durch die Transformation entstanden ist und die durchaus für einige attraktiv war.
Welche Steuerungsinstrumente stehen den Führungskräften zur Verfügung?
HARRER Steuerungsinstrument für die Gesamtbankebene ist unser Quarterly Business Review, QBR. Dieser basiert auf einer quartalsweisen Vorstands-Guidance, die die Prioritäten im jeweiligen Quartal und auch das Change-Portfolio mit den Features festlegt, an denen wir in diesem Quartal arbeiten wollen. Das ist eine Steuerung durchgängig auf Gesamtbankebene bis runter auf die Arbeitsebene der Squads. Auf dieser Grundlage können die Tribes ihren Backlog erstellen. Die Squads wiederum ziehen sich ihre Aufgaben aus dem Backlog des Tribes.
Wie kommen die neuen Prozesse und Strukturen bei den Mitarbeitenden an? Wie gut kennen Sie den Puls der Organisation?
HARRER Wir haben als Befragungslandschaft eine Organizational Development Map entwickelt. Diese ODM ist unsere Marke von HR für das Thema Organisationsentwicklung und besteht aus drei Komponenten: Zum einen ist das ein Health Check. Das ist das bekannte Inventar von McKinsey zu Organizational Health. Das zweite ist der Balance Scan, der auf der Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung fußt, aber die wir weiterentwickelt haben, um spezifisch auf unsere Anforderungen einzugehen. Und die dritte Komponente ist der Agile Scan. Das ist die Reifegradmessung unserer agilen Organisation in Bezug auf Methodiken und Kultur. Alle Pulsmessungen laufen in der ODM zusammen und werden so aufbereitet, dass es Aufschluss darüber gibt, wo die Bereiche stehen und wo es Unterstützung braucht, sei es von HR oder von unseren Organisationsberatern.
Wie ist die Transformation aus HR-Sicht gelaufen?
HARRER Uns war zu Beginn der Transformationsphase klar: Als Treiber von Kultur- und Organisationsentwicklung müssen wir als HR vorangehen. Wir haben in HR zwei Squads gebildet, das Transfomation-Squad und das People-Development-Squad. Das Transformation-Squad war in der Verantwortung, die organisatorischen Veränderungen agil zu begleiten und die personalwirtschaftliche Umsetzung der Veränderung zu gestalten. Gleichzeitig haben wir erwartet, dass wir in Echtzeit neue Bedarfe nach Qualifizierung sehen werden – dafür war das People-Development-Squad verantwortlich und hat beispielsweise in Zweiwochensprints iterativ neue Lernformate, neue Onboarding-Formate und andere Angebote entwickelt. Bei uns in HR finden sich eigentlich alle Elemente der agilen Organisation wieder. Wir sind Dienstleister, Expertenorganisation und Produktentwickler. Und auch wir arbeiten cross-funktional und kundenorientiert.
MIT AGILEN ROUTINEN GUT DURCH DIE KRISE GEKOMMEN
Sie hatten den tiefgreifenden Change Ende 2019 gerade vollzogen, dann kam die Pandemie. Und die neuen, agilen Denk- und Arbeitsweisen wurden schneller als erwartet auf den Prüfstand gestellt. Mit welchem Ergebnis?
HARRER Die Pandemie hat uns in unserem agilen Weg bestärkt und gezeigt, wie gut wir aufgestellt sind. Weil die Teams eben schon dezentral organisiert waren und durch die agilen Routinen alle in Verbindung miteinander waren. So waren die Voraussetzungen schon da, um die Arbeit autonom zu gestalten und zu steuern. Die neuen Führungskräfte hatten bereits ihre Rollen übernommen, das neue Führungsverständnis war angelegt. Wir konnten die agilen Routinen einfach in den virtuellen Raum verlegen. Ich bin davon überzeugt, dass durch die Pandemie viele Unternehmen neue Formen der Zusammenarbeit entdeckt haben, die bei uns durch die Transformation schon vorhanden waren und die wir – ich glaube, als einzige Bank – flächendeckend eingeführt haben. Nicht jeder muss agil sein. Aber neue Formen der Zusammenarbeit erkunden, das muss jetzt auf der Agenda jeder Organisation sein. Eine dezentrale Organisation ist entscheidend dafür, gegenüber solchen Disruptionen resilient zu sein.
Als Konsequenz der Krise haben Sie unter dem Namen „Beyond Working“ ein hybrides Arbeitsmodell eingeführt.
HARRER Beyond Working ist eine Verlängerung unseres agilen Arbeitens. Die Initiative setzt auf unserer Überzeugung auf, dass wir Flexibilität und Autonomie weiter fördern, aber gleichzeitig auch unsere Vision verwirklichen wollen, wie das Arbeiten nach Corona aussehen kann. Wir haben bereits im April 2021 mit dem Gesamtbetriebsrat dieses hybride Arbeitsmodell abgeschlossen, das Arbeiten im Büro mit mobilem Arbeiten verbindet. Das Modell basiert auf der Autonomie, die wir den Mitarbeitenden zugestehen. Unsere Mitarbeitenden erhalten dafür alle fünf Jahre ein Ausstattungsbudget von 1 000 Euro.
Welche Themen hat die Krise verstärkt in den Blick Ihrer HR-Arbeit gerückt?
HARRER Wir haben in der Krise verstärkt gesehen, dass wir manche Versprechen als HR nicht alleine einlösen können, sondern dass es nur gemeinsam mit den angrenzenden Bereichen geht. In Bezug auf Beyond Working mit dem Tech-Bereich, der die Infrastruktur für unsere digitalen Angebote liefert und entwickelt. Oder mit dem Facilities-Bereich, der über die Flächen nachdenken muss, wenn wir jetzt ein hybrides Arbeitsmodell haben – und so weiter. Wenn wir jetzt neue HR-Produkte entwickeln, dann tun wir das bei HR auch in cross-funktionalen Squads, in die wir Kollegen und Kolleginnen aus den beteiligten Bereichen integrieren können, aber eben auch Anspruchsgruppen, Kunden oder auch die Mitbestimmung. Das ist der Mehrwert einer Ende-zu-Ende-Verantwortung, die fester Bestandteil unseres Arbeitens ist. Wir haben außerdem gesehen, welchen Stellenwert Befragungen und das Feedback daraus haben, um Produkte und Dienstleistungen vonseiten HR zu hinterfragen und sie nah den Bedürfnissen der Belegschaft und der Geschäftsstrategie weiterzuentwickeln. Und wir haben gelernt, dass die Bedeutung von Wellbeing stark zugenommen hat.
Die ING wurde bereits im Jahr 2019 mit dem Corporate Health Award ausgezeichnet.
HARRER Wellbeing und Gesundheit haben bei uns schon lange einen ganz wichtigen Stellenwert, und ich glaube, dass die Pandemie dieses Thema bei vielen Organisationen weltweit noch mal ins Brennglas gerückt hat. Viele Angebote und Leistungen zur Gesundheitsförderung sind bei uns Gegenstand unseres Zukunftstarifvertrags. Dazu gehört zum Beispiel ein digitales Gesundheitsbudget für jeden Mitarbeitenden und Angebote per App. Für dieses Produkt haben wir den Award bekommen. Wir haben aber durch die Transformation noch einmal gemerkt, wie wichtig psychologische Sicherheit ist. Zu Wellbeing gehören ja nicht nur Gesundheit, Ernährung, Erholung. Dazu gehört auch Zusammenhalt oder Zugehörigkeit, was sich gerade im Remote Working gezeigt hat. Gerade in diesen Punkten ist die Rolle der Führungskraft zentral.
PEOPLE STRATEGY IN GESAMTSTRATEGIE EINGEBETTET
Ihre People Strategy beruht auf der gemeinsamen Vision „The Coolest Place to Work in Banking“ zu sein. Wie sieht die Roadmap aus?
HARRER Ein zentrales Element für dieses Ziel ist, dass wir die People Strategy im Jahr 2020 in die Gesamtbankstrategie eingebettet haben. Nach der Transformation arbeitet die ganze Bank anders, iterativ. Wir wollen lernen. Wir wollen Feedback. Wir wollen alle Anspruchsgruppen einbeziehen. Daraus ist der Impuls entstanden, in der People Strategy den Markenkern zu spiegeln. Zu den vier erwähnten Kundenversprechen gehören Empower und Keep Getting Better, die auch unseren Mitarbeitenden gegenüber einzuhalten sind. Ich habe vorhin gesagt, unsere Kunden interessiert es nicht, wie wir arbeiten. Das gilt zum Teil auch für die Mitarbeitenden. Für sie spielt es meist auch keine Rolle, ob jetzt Facilities oder Tech zuständig ist. Wichtig ist für sie ihre Aufgabe. Wenn es für alle ein gutes Erlebnis ist, dann haben wir als Organisation für unser Ziel einen guten Job gemacht.
Wie sehen die Befähigungsangebote im Sinne der Markenversprechen für die Mitarbeitenden aus?
HARRER Der Empowerment-Gedanke spiegelt sich in unserer Entwicklungsphilosophie „My Way“. Wir wollen Menschen befähigen, selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen, ohne dass wir Menschen belehren. My Way heißt ja so viel wie „du hast es selbst in der Hand“. Es ist ein vierstufiger Prozess: Selbsteinschätzung, Entwicklungsmöglichkeiten identifizieren, Planung und Umsetzung der Entwicklungsschritte. Für die erste Phase bieten wir allen Mitarbeitenden ein Stärken-Assessment mit einem individuellen Coaching an. Wir haben Ende 2019 ein tarifliches Weiterbildungsbudget vereinbart. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin bekommt jährlich 500 Euro für die persönliche Weiterbildung. Und das umfasst eben nicht die Kurse, die man sowieso machen muss, weil der Job es verlangt.
Ist My Way auch ein Baustein für das Talent Scouting, um Toptalente zu identifizieren und sie systematisch als Personen zu entwickeln?
HARRER My Way bildet die Mitarbeitendensicht auf dieses Themenfeld. Talentförderung und Kompetenzentwicklung sind zentrale Bestandteile für uns als Organisation, aber aus HR-Sicht müssen wir beim Talent Scouting auch den externen Arbeitsmarkt einbeziehen. Man merkt immer mehr, dass vielfältige Erfahrungen und Hintergründe wichtig sind.
Welche Bedeutung hat für Sie Diversität im Unternehmen?
HARRER Diversität ist für uns eine Selbstverständlichkeit, weil wir uns als Teil einer modernen und offenen Gesellschaft begreifen. Wir sprechen jedoch von Diversity and Inclusion. Warum? Ich gebe ein Beispiel: Wenn ich Menschen einstelle mit verschiedener Herkunft oder verschiedenen sexuellen Orientierungen, habe ich zunächst Vielfalt. Aber die Aufgabe von uns als Organisation oder aber von den Teams, die miteinander arbeiten, ist, gemeinsam in einen guten Austausch zu kommen und eine offene und zugewandte Art miteinander zu entwickeln. Weil nur dann die verschiedenen Perspektiven und die frischen Ideen, die jeder mitbringt, auch Eingang finden können in unsere Arbeit mit einem gemeinsamen Purpose.
Wie wichtig ist Ihnen Sinnstiftung im Unternehmen, und was verstehen Sie darunter?
HARRER Ich habe bei Dr. Gerald Hüther, den ich sehr schätze, einen schönen Ausdruck dafür gefunden. Er sagt, was Gemeinschaften zusammenhält und was Orientierung gibt und was einen Sinn stiftet, das ist ein gemeinsames Anliegen – ob das ein Sportverein ist oder eine Bank oder eben ein Tribe. Das ist nachhaltiger als eine Zielvereinbarung, weil es auch eine emotionale Komponente hat. Damit erreiche ich Menschen auf eine ganz andere Art als über eine rationale Nutzenabwägung. Wir bieten für alle Mitarbeitenden, auch gemeinsam im Team, einen Workshop „Finde deinen Purpose“ an. Ich habe das auch gemacht. Es war eine sehr interessante Entdeckungsreise zu mir selbst.
Was haben Sie in dem Workshop über Ihren eigenen Purpose herausgefunden?
HARRER Mir ist klargeworden: Was mir persönlich und auch beruflich immer Energie und am Ende auch Kraft gegeben hat, waren Veränderungssituationen, die natürlich erst mal eine Herausforderung sind, aber durch die ich auch meine eigenen Ressourcen erlebt habe, mit denen ich über ein Hindernis hinwegkommen kann. In diesem Kontext habe ich gemerkt, dass mein eigener Purpose ist, Menschen durch solche Veränderungsprozesse zu begleiten. Das ist es, was mir Energie gibt, was mich einfach begeistert, und zwar auch dann, wenn wir vielleicht noch gar nicht wissen, wo diese Veränderung hinführt.
HR ALS VERMITTLER ZWISCHEN MENSCH, ARBEIT UND GESELLSCHAFT
Die ING engagiert sich für Mitarbeitende und arbeitet stark kundenorientiert. Welche Rolle spielt soziale Verantwortung bei der ING?
HARRER Nachhaltigkeit ist bei uns fest verankert und das heißt einerseits, unseren eigenen Ressourcenverbrauch zu optimieren. Andererseits betrifft es unsere geschäftlichen Entscheidungen und die Fragen: Wem leihen wir Geld, welche Projekte finanzieren wir, wie legen wir Geld an? Wir haben schon 2015 aufgehört, Kohlekraftwerke neu zu finanzieren, und laufende Finanzierungen wollen wir bis 2025 auf null bringen. Zudem haben wir den Compassionate Business Award von Peta für vorbildliche tierschutzrechtliche Finanzierungsrichtlinien erhalten. Unser Grundsatz des fairen Geschäftsmodells leben wir in vertrauensvollen, nachhaltigen Kundenbeziehung. Wir tätigen keine spekulativen Geschäfte mit Rohstoffen oder Aktien. Wir haben rund 140 Milliarden Euro an Kundeneinlagen, die uns anvertraut werden. Wir haben für uns den Begriff FAIRantwortung geprägt. Über eine Reihe von internen Netzwerken beziehen wir auch die Mitarbeitenden in diese gesellschaftliche FAIRantwortung ein.
Sie haben Philosophie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schauen Sie als Philosoph manchmal anders auf die Arbeitswelt als der Wirtschaftswissenschaftler in Ihnen?
HARRER Als Philosoph habe ich gelernt, Fragen zu stellen und Sachverhalte gründlich zu durchdenken, und ich muss sagen, ich schätze gute Argumente, auch die kritischen, vielleicht diese ganz besonders. Wenn wir ein neues Produkt oder einen neuen Prozess diskutieren, hilft mir das. Die Wirtschaftswissenschaften liefern mir das Handwerkszeug, wenn es darum geht, einen Business Case zu rechnen oder einen Prozess zu beschreiben. Ich habe aus beiden Welten einen festen inneren Kompass mitgenommen mit Blick auf die Sinnfrage: Nicht alles, was wirtschaftlich darstellbar ist, macht auch Sinn.
Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt sind nicht sehr rosig. Da fallen Fachkräftemangel und Strukturwandel mit zusätzlichem Abbau von Arbeitskräften zusammen. Wie sehen Sie diese Entwicklungen?
HARRER Diese Frage beschäftigt mich in meiner Rolle als Personalleiter, aber auch als ehrenamtliches Vorstandsmitglied des Demographie Netzwerks ddn. Dort ist eine ganze Bandbreite von Unternehmen vertreten, die insgesamt zwei Millionen Beschäftigte repräsentieren. Ich finde, dass wir sowohl bei HR, aber auch gesellschaftlich eine viel breitere Diskussion darüber haben sollten, wie wir arbeiten wollen, und diese Frage nicht auf Homeoffice ja oder nein verkürzen dürfen. Wenn wir über Arbeitszeit und Arbeitsort diskutieren, kommen ganz viele andere Fragen auf, über Formen der Zusammenarbeit oder eben Sinnstiftung. Über mein Mandat beim ddn möchte ich Impulse dazu geben, auch in Richtung Politik. Damit wir alle selbst Teil der Diskussion sind, uns nicht nur als Betroffene des Wandels erleben, sondern als Gestalter.
Wie sollte Ihrer Meinung nach ein HR aussehen, das als Zukunftsgestalter relevant ist?
HARRER Mir wäre es wichtig, dass wir weniger funktional auf HR gucken. Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch, aber wir sollten ein bisschen davon wegkommen und HR-Talente beispielsweise nicht mehr strikt nach Recruiting oder Personalentwicklung einteilen. Mein Anliegen wäre, HR als eine Businessrolle zu etablieren. Des Weiteren sollten wir HR als die zentrale Rolle in Organisationen sehen, die zwischen Menschen, Arbeit und Gesellschaft vermittelt. Da steckt ja viel drin, auch vieles, worüber wir gesprochen haben. Es geht um Vielfalt, darum, Menschen zu befähigen, aber auch darum, was Menschen bewegt, es geht um Disruption, um Krisen und darum, wie sich die Gesellschaft verändert und was in der Sphäre der Arbeit passiert. HR ist und bleibt eine Rolle, die sich mit den Menschen beschäftigt. Daher werden auch für mich als HR-Verantwortlicher weiterhin die Themen Wellbeing und Ways of Working ganz oben auf der Agenda stehen.
Herr Dr. Harrer, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führten Ralf Steuer und Sabine Schritt.
Engagement für Mitarbeitende, Kunden und Gesellschaft. Mit über neun Millionen Kundinnen und Kunden ist die ING drittgrößte Bank in Deutschland. Die Kernprodukte sind Girokonten, Baufinanzierungen, Spargelder, Verbraucherkredite und Wertpapiere. Im Bereich Wholesale Banking bietet die Bank Dienstleistungen für große, internationale Unternehmen an. Rund 6 000 Mitarbeitende arbeiten am Hauptsitz in Frankfurt am Main und an weiteren Standorten in Deutschland. Im Mai 2021 wurde die Direktbank vom Wirtschaftsmagazin Euro zum 15. Mal in Folge als Deutschlands „Beliebteste Bank“ ausgezeichnet. Im Juli 2021 hat die ING die Marke von einer Million aktiven Wertpapiersparplänen geknackt und deren Anzahl damit innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. Im September 2021 veröffentlichte die Bank ihren ersten integrierten Klimabericht. Dieser gibt einen Überblick über alle Fortschritte und Aktivitäten beim Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz über alle Standorte weltweit hinweg.