PERSONALFÜHRUNG Herausgeber-Interview: „Wir können Angebote machen, aber nicht über die Entwicklung der Menschen verfügen"

Bodo Janssen, Geschäftsführer und Eigentümer von Upstalsboom

Am zweiten Tag des Coronalockdowns traf sich Upstalsboom-Eigentümer Bodo Janssen mit zwölf Direktoren seiner Hotelkette zu einem Zoom-Meeting. Jeder hatte drei Minuten Zeit, Impulse, Gedanken und Fragen vorzubringen: Wie kann das Unternehmen die Krise bewältigen? Niemand kommentierte, niemand hakte nach, doch am Ende wusste jeder, was zu tun war. Vor allem zuhören – darum geht es Janssen bei seiner Art der klösterlichen Gesprächsführung. Spiritualität ist nur eine Facette der Unternehmensführung bei Upstalsboom. Viel Wert wird auf selbstbestimmtes Arbeiten gelegt. Das geht so weit, dass in einigen Häusern die Mitarbeitenden ihr eigenes Gehalt festlegen.

BODO JANSSEN ist geschäftsführender Gesellschafter von Upstalsboom. In die familiengeführte Kette von Hotels und Ferienwohnungen in Norddeutschland stieg er 2005 ein und übernahm sie 2007, nachdem sein Vater in seiner Cessna einen Herzinfarkt erlitt, abstürzte und starb. Janssen hat in Hamburg Sinologie und Betriebswirtschaftslehre studiert und als Model gearbeitet. 1998 wurde der Hotelierssohn entführt und erst acht Tage später nach Zahlung des Lösegelds vom SEK befreit. Bodo Janssen ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er beschäftigt sich mit den Regeln der Benediktiner und des Zen, mit positiver Psychologie und stoischer Philosophie, mit Neurobiologie und holokratischem Wirtschaften. In Büchern, Vorträgen und seinem Unternehmen wirbt er um Strukturen, die den Menschen in seiner Entwicklung stärken.

Herr Janssen, auf welchen Säulen steht die Unternehmenskultur von Upstalsboom?

BODO JANSSEN Also ich würde tatsächlich gar nicht von mehreren Säulen, sondern von der einen Säule sprechen. Der Kernprozess will Menschen stärken oder anders ausgedrückt: In der Mitte steht der Mensch. Konkret heißt das, dass wir das Unternehmen als Plattform dafür verstehen, dass sich Menschen psychisch, physisch und sozial wohlfühlen. Das ist unser Antrieb. Das ist das, wofür wir uns stark machen, und das ist somit unsere Säule. In der traditionellen Wirtschaft wird der Mensch eher als Mittel zum Zweck dafür gesehen, Gewinn zu erzielen. Oder die klassische Führungskraft betrachtet die Führung als Mittel zum Zweck, Karriere zu machen oder Geld zu verdienen. Genau das haben wir für uns gewandelt: Der Mensch ist nicht Mittel zum Zweck Wirtschaft, sondern die Wirtschaft ist Mittel zum Zweck Mensch.

Gehen Sie davon aus, dass in dem Moment, in dem Sie erfolgreich Ihren unternehmerischen Weg gehen, der wirtschaftliche Erfolg ohnehin kommt?

JANSSEN Ausgehen würde ich davon nicht. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es in weiten Teilen so ist, aber nicht immer. Denn wenn es um die Entwicklung von Menschen geht, können wir über ihre Entwicklung nicht verfügen. Das zeigt sich in vielen Aspekten: Über Vertrauen kann ich nicht verfügen, denn Vertrauen entsteht. Über Verantwortung kann ich nicht verfügen, denn die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, kann wachsen, muss aber nicht. Glück und Zufriedenheit, auch darüber kann ich nicht verfügen. Wir agieren also in die Unvorhersehbarkeit. Im klassischen wirtschaftlichen Denken investiere ich in den Return on Invest. Bei uns ist es eher so ein bisschen die Hoffnung auf eine Entwicklung, die dann letztendlich zu diesem Staunen führt, was tagtäglich im Arbeiten entstanden ist. Wir haben keinen einheitlichen Standard für alle Hotels und Ferienanlagen. Dazu sind die Häuser zu unterschiedlich. Die, die dort arbeiten, gestalten die Arbeitsprozesse. Wir schauen also auf das, was die Menschen aus diesen Begegnungen gemacht haben.

Für Sie waren der Auslöser für die neue Firmenkultur die Mitarbeiterbefragungen 2006 und 2010. Die erste haben sie gleich in der Schublade verschwinden lassen. Aber 2010, als Sie trotz Ihrer unternehmerischen Erfolge von den Beschäftigten als Chef niedergemacht wurden, sind Sie ins Kloster gegangen zu Benediktinerpater Anselm Grün. Heute haben Sie auch einen Meditationsraum eingerichtet.

Janssen Es führen unterschiedlichen Wege nach Rom: der Zen-Raum, das Kloster, die positive Psychologie, das Labor, was auch immer. Bei den Wegen geht es vielmehr darum, wer sich auf einen Weg einlassen kann. Das Ziel ist immer, den Menschen zu stärken, und die Erkenntnis, was Menschen stärkt, lässt sich eigentlich auf all diesen Wegen und in all diesen Disziplinen vereinen. Wir arbeiten momentan sehr viel in der stoischen Philosophie. Ob ich den Mitarbeitenden Erkenntnisse aus der Stoa anbiete, wie sie über die eigene Kraft glücklich werden, oder ob ich ihnen Erkenntnisse aus der Gehirnforschung des Neurobiologen Gerald Hüther nahebringe, es geht immer um den Menschen. Ein einfaches Beispiel: Ich war in Mannheim auf einem Kongress für Lean Manager. Es war schon sehr viel für die, sich in einen Stuhlkreis setzen zu müssen. Es ging um Meditation, um Stille und um Entspannung. Wenn ich denen sage „Lassen Sie uns mal Om machen“, dann wären die alle rausgerannt. Dort erkläre ich die Entspannungstechnik über den Vagusnerv, der am Kehlkopf sitzt und sie in fünf Minuten entspannt, wenn sie Stress haben. Da kriegen alle große Ohren. Ich erkläre, dass bei leisem Brummen der Parasympathikus aktiviert wird, die Nebennierenrinde abschwillt, Cortisol und Adrenalin runtergehen, der Hippocampus wieder groß wird – und der Stress sinkt.

Da haben Sie das Mantra Om aber prima übersetzt.

JANSSEN Und genau darum geht es. Wir Führungskräfte übersetzen ein und dieselbe Thematik in unterschiedliche Sprachen. Während ich den einen mit Spiritualität anspreche, weil er auch das glaubt, was er nicht sieht, muss ich den Ingenieur vielleicht mit wissenschaftlich fundierten Laborergebnissen konfrontieren, weil er nur das glaubt, was bewiesen ist.

Sie beschäftigen Auszubildende, Hotelfachkräfte und etliche Quereinsteiger, wie zum Beispiel einen Banker: Ist den Menschen, die sich bei Ihnen bewerben, klar, dass es bei Upstalsboom anders läuft als in gewöhnlichen Unternehmen?

Janssen Das ist sehr unterschiedlich. Die erste Kategorie ist die, die einfach einen Arbeitsplatz sucht, eine gute Arbeit, für die sie ordentlich bezahlt wird. Zur zweiten Kategorie gehören die, die sich bei neuen Projekten, die wir reichlich haben, beteiligen möchten, weil das Teil ihres Abenteuers ist. Die nutzen uns als Zwischenstation auf ihrem ganz persönlichen Weg. Und dann gibt es einen Teil Bewerber, die wollen zu uns kommen – egal, welche Aufgabe sie wahrnehmen. Hier im Parkhotel Emden, einem sehr traditionellen Haus mit einer langen Geschichte und einer entsprechend langsamen Entwicklungsgeschwindigkeit, hat der Direktor einen guten Ruf bei den Eltern, und die empfehlen quasi die Auszubildenden hierher. Wir könnten mehr Auszubildende einstellen als wir tatsächlich einsetzen können. Wenn ich auf Föhr schaue, ist es ganz anders mit den Auszubildenden. Die Gäste machen Urlaub bei uns und bitten darum, dass ihre Kinder bei uns ein Praktikum machen können.

Die Gastronomie- und Hotelbranche klagt gerade sehr über Mitarbeitermangel.

Janssen Mund-zu-Mund-Propaganda spielt in der Branche eine große Rolle. Mitarbeiter, die sich im Housekeeping bewerben, kommen nicht auf Stellenanzeigen. Ob da was von flachen Hierarchien steht, ist ihnen egal. Aber die oft ausländischen Mitarbeiter stehen in engem Kontakt zueinander. Sie bewerben sich, weil die Arbeitsatmosphäre stimmt und die Bezahlung als fair empfunden wird. Der Direktor in Föhr, der früher selbst im Housekeeping gearbeitet hat, hat mit den Mitarbeitenden gesprochen, hingeschaut und zugehört – und schließlich Prozesse entwickelt, die die Arbeit einfacher machen. Er hat den Rahmen geschaffen, in dem die Menschen ihre Aufgaben gut erfüllen können. Eine Zufriedenheit ist entstanden, und die hat sich herumgesprochen. Die Zahl der Bewerbungen nahm sprunghaft zu.

Wenn der Mensch so in den Mittelpunkt rückt in Ihrer Philosophie, in Ihrer Haltung und auch in Ihrer Art zu führen und zu managen, kann es bei allem guten Willen trotzdem zu Friktionen kommen, etwa wenn eine bestimmte Haltung eines Menschen die Gruppe infiziert, wenn Gruppendynamik wirkt. Gehen Sie dann klassisch vor und trennen sich, auch auf arbeitsrechtlich eisenharter Schiene? Oder ist da Ihre Philosophie auch eine andere?

Janssen Wir können Menschen einladen, inspirieren und ermutigen. Aber genau da hört unsere Verfügung auf. Alles andere ist abhängig von Menschen und anderen Umständen. Es gibt die, die fühlen sich angesprochen und gehen in die Umsetzung. Dann gibt es die, die fühlen sich noch nicht angesprochen, etwa weil sie noch nicht das Alter erreicht haben oder sie nur gute Arbeit für gutes Geld wollen. Die sind bei uns genauso willkommen wie die, die sich aktiv dafür einsetzen, worum es uns geht. Und dann gibt es die, über die Sie sprechen: Die konterkarieren, also die intervenieren in diese Prozesse hinein. Wir haben dafür ein klares Commitment: Registriert ein Mitarbeiter ein Verhalten eines Kollegen, das die Gemeinschaft frustriert, spricht er das gegenüber diesem Menschen an. Wenn sich danach keine Entwicklung abzeichnet und das Verhalten sich nicht verändert, kommt die nächste Eskalationsstufe: Das Team setzt sich mit dem Betroffenen zusammen und spricht die Dinge an. Es muss geklärt werden, ob nur einer die Störung empfindet. Darauf aufbauend entsteht für den Betroffenen ein Handlungsdruck, der besagt, entwickle dein Verhalten. Wenn das auch nicht fruchtet, wir also quasi mit einem kranken Gaul sprechen, dann kommt die nächste Eskalationsstufe: Das Team setzt sich ohne den Betroffenen zusammen, bespricht sich und entscheidet darüber, ob dieser noch im Team bleiben kann oder nicht. Voraussetzung ist Einstimmigkeit. Solange nur einer dabei ist, der noch daran glaubt, diesen Menschen zu entwickeln, spricht er sich dafür aus, übernimmt aber auch die Verantwortung dafür, das zu tun.

Und wenn das Team sich einstimmig gegen den Kollegen entscheidet?

Janssen Dann muss derjenige gehen, zur Not mit arg harten arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Im letzten Fall, den ich auf diese Art und Weise erlebt habe, ging es um einen hoch identifizierten Mitarbeiter mit dem Logo als Tattoo auf dem Unterarm. Der hat sich das angehört und dann gesagt, er übernehme Verantwortung dafür, könne das Verhalten nicht abstellen. Er würde gehen, aber er brauche ein halbes Jahr Zeit, um sich umzuorientieren. Diese Zeit erbitte er von den Kollegen, er werde seine Aufgaben ordentlich zu Ende bringen. Das Team beschloss, ihn zu unterstützen darin, eine Alternative zu finde. Der Mitarbeiter ist jetzt in die Staaten gezogen.

Sie sind über den Prozess informiert, sitzen aber im Team nicht dabei?

Janssen Wir arbeiten noch nicht flächendeckend, aber überwiegend holokratisch. Mit unserem Kulturteam in der Zentrale kommen wir alle sechs Monate zusammen, stellen alles infrage und überlegen, was braucht es jetzt? Ein Mensch erhält dann die Verantwortung zugesprochen für die Veränderung. Das bin nicht ich, das ist ein Mitarbeiter. Die Art, wie er diese Entscheidung trifft, ist allerdings sehr festgelegt. Er fragt alle nach ihrer Meinung, nach ihrer Einschätzung und trifft dann eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen. So steht es in der Regel des heiligen Benedikt: Er mache alles mit Rat, dann braucht er nach der Tat nichts zu bereuen. Das Verfahren hilft gegen die Angst zu entscheiden. Holokratie funktioniert nicht nur für die Führung, sondern auch für die Kommunikation, für die Organisation, für die Produkte, für das Angebot, für alles.

Hat sich das holokratische Arbeiten auch während der Coronapandemie bewährt?

Janssen Wir mussten von einem Tag auf den anderen alle Häuser auf null fahren. In der Pandemie haben wir uns neu eingestellt – mit einer klösterlichen Gesprächsführung in digitalen Zeiten. Am zweiten Lockdowntag trafen sich zwölf Direktoren und ich im Zoom. Jeder hatte drei Minuten Zeit, über Impulse, Gedanken und Fragen zu referieren. Ich kommentierte nicht. Keiner kommentierte. Keiner stellte Fragen. Ruhe und zuhören. Eine Runde, Schweigen und dann noch eine Runde. Es ist erstaunlich, aber danach hat in der Regel jeder für sich die Fragen beantwortet, trifft für sich die Entscheidungen, die vor Ort erforderlich sind und mit denen er vor Ort zu Rande kommt.

Wie kriegen Einsteiger den Zugang zu diesen teils agilen, teils uralten auf Benedikt beruhenden Führungsmethoden?

Janssen Wie die Bewerbungs- und Entscheidungsprozesse aussehen, ist von Hotel zu Hotel vollkommen unterschiedlich. In manchen Hotels arbeiten die Leute auf Probe. Da geht es über das Erleben, tatsächliches Onboarding praktiziert das Team Kultur und Entwicklung. Dieses Team lädt Neuankömmlinge nach unserem Curriculum zu Onboarding-Sessions ein und arbeitet mit ihnen für ein bis zwei Tage auf die Art und Weise, wie wir das bei uns üblicherweise tun. Sie lernen das Instrumentarium kennen, die Methoden. Wir spielen im Workshop partizipativ und intuitiv die Tools von Eigenland, wir leben Rituale. Die Techniken sind immer darauf ausgerichtet, Menschen zu verbinden. Das bedingungslose Interesse am Menschen steht vor der Leistung.

Das kann ja nur vor Ort gehen, nicht zentral.

Janssen Ja, in den Peer Groups. Wir laden dazu ein und sagen: Findet zwei Gleichgesinnte, mit denen ihr all die Impulse und Erfahrungen teilt, euch austauscht und gegenseitig stärkt. Außerdem arbeiten wir bewusst in heterogenen Gruppen, der Praktikant und der Direktor, Männlein und Weiblein, alles ist dabei, wenn wir anfangen zu arbeiten. In Schulungen finden sich nicht nur Mitarbeiter wieder, sondern auch deren Angehörige und Externe. Wir mischen, weil das für uns zwei wichtige Impulse setzt. Mit dem Blick von außen können wir erstens ermessen, wo wir kulturell stehen. Der zweite für uns sehr wichtige Impuls liegt darin, dass unsere Mitarbeiter durch die Aufmerksamkeit, die sie von außen erfahren, Wertschätzung empfinden. Da kommt der Vorstand in das Landhotel Friesland und putzt mit dem Zimmermädchen im Kultur-Sightseeing-Zimmer.

Kann man solch eine Kultur auch im Konzern leben? Oder sind Sie im Vorteil, weil Sie mit 25 Standorten, 60 Hotels und Ferienwohnungen sowie rund 700 Mitarbeitenden ein mittelständischer Familienbetrieb sind?

Janssen Ich glaube, dass es tatsächlich überall geht. Ich höre häufig das Argument: Ich habe hier ein 40 000‑Mann-Unternehmen, wie kann ich das machen? Und ich sage dann: Das ist maximal eine Entschuldigung, es nicht zu tun. In Deutschland lieben wir Konzepte – und entschuldigen unser Nichtstun damit. Es geht immer um mein persönliches Verhalten. Die Angst davor, Verantwortung zu übernehmen, ist ein Symptom der Machtpyramide, der Leistungsgesellschaft und des Wettbewerbs. Drei Faktoren tragen zur Bereitschaft bei, Verantwortung zu übernehmen: Wenn der Sinn größer ist als die Angst, dann bewege ich mich. Wenn der Sinn größer ist als die Unlust, dann bewege ich mich. Und wenn ich darauf vertraue, einen Fehler machen zu dürfen, bewege ich mich. In meiner Exkursion mit den Auszubildenden in die Arktis bei minus zehn Grad, starkem Wind und Schneetreiben ist mir beim Aufbau des Zelts die Stange gebrochen. Das war sehr, sehr unangenehm. Dann kam der Guide, hat alle zusammengerufen und gesagt: „Hey Guys, kommt mal her. Wir haben die Chance, etwas zu lernen.“ Da fiel nicht mein Name, dass ich die Stange durchgebrochen habe, da ging es um die Chance. Ein anderes Beispiel: Eine Mitarbeiterin hat in einem TV-Interview gesagt, sie verstehe nicht, dass Upstalsboom Schulen baue in Ruanda, aber sie als alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn nicht mal das Geld habe, in Urlaub fahren zu können. Ich habe sie natürlich angesprochen, was sie bewegt. Aus diesem Impuls heraus ist bei uns eine Gruppe entstanden, die sich im Unternehmen damit beschäftigt, wie der Lohn der Zukunft aussieht. In Mecklenburg-Vorpommern wurde dann das Gehalt der Mitarbeiter an die Westentlohnung angepasst – eine Lohnerhöhung von 30 Prozent im November 2019.

Das Gehaltssystem und die wirtschaftlichen Daten sind in den einzelnen Häusern transparent. Auch, was Führungskräfte verdienen, ist offen.

Janssen Wir sind bei dem 4,5‑fachen Satz.

Gibt es ein Budget, innerhalb dessen die Mitarbeiter ihr Gehalt selbst bestimmen können, oder hängt das davon ab, wie erfolgreich das Hotel läuft?

Janssen Dort, wo wir die Menschen in diesen Prozess der eigenständigen Lohnfindung überführen, gibt es kein Budget. Zum Beispiel bei den Ferienwohnungen entwickeln sie das Gehaltsgefüge auf Basis des Stundenlohns, immer im Kontext und im Verhältnis der Gesamtwirtschaftlichkeit. Aber wir streben auch andere Modelle an. Zum Beispiel die Deckungsbeitragsbetrachtung, bei der den Mitarbeitern eine feste Quote vom Deckungsbeitrag als Lohnpotenzial zur Verfügung gestellt wird. Das finde ich im verwaltenden Bereich gut, im Hotelbereich aber nicht, weil der Deckungsbeitrag dann häufig zulasten der Nachhaltigkeit für Natur und Ökologie geht. Wir probieren viel aus. Jedes Hotel ist wie eine Art Labor, und die Menschen dürfen sich darin versuchen, Wege zu finden, die zu ihnen und in die Zeit passen.

Ist eigentlich die Nomenklatur Chef noch die richtige bei diesem Konzept? Sind Sie nicht eigentlich mehr Coach und Moderator? Und werden Hierarchien durch die sehr starke Demokratisierung in vielen Themenfeldern obsolet?

Janssen Das ist tatsächlich so. Der Coaching-Ansatz ist ein sehr relevanter Ansatz. Ich würde ihn umschreiben als Inspiration und Begleitung. Ein gutes Beispiel ist unser ehemaliger Direktor auf Föhr, der eigentlich alles erreicht hat, dieses unglaubliche Haus, das da für 100 Millionen hingesetzt worden ist, tolle Gäste, tolle Mitarbeiter, die Kultur des Unternehmens verdichtet, stark, strahlend, richtig gut. Und der sagt, er habe im Curriculum für sich erkannt, dass es noch andere Dinge gebe. Er habe einen behinderten Bruder. Er möchte die familiäre Unterstützung verbinden mit dem Beruflichen und fange ganz von vorne an, mache noch eine Ausbildung im therapeutischen Bereich und entwickle dann ein Hotel mit Menschen mit Behinderung. Das ist für mich die absolute Krönung. Darum geht es mir. Die Menschen lassen trotz aller Annehmlichkeiten im Angesicht ihrer eigenen Persönlichkeit und wahren Natur das Äußere los, um dem nachzugehen, was sie wirklich lieben. Dieser Mitarbeiter hatte bei uns eine Coaching-Ausbildung begonnen. Die wird er auch über sein Ausscheiden hinaus vollenden.

Da verbindet sich Berufliches mit Privatem. Was ist denn, wenn Mitarbeiter die Nähe ablehnen?

Janssen Das ist vollkommen in Ordnung. Die Menschen gibt es auch. Ich kann nur Angebote aussprechen.

Mitarbeiter müssen also nicht ihre Krisen offenlegen, obwohl Sie selbst so wahnsinnig offen mit Ihren Lebenskrisen umgehen?

Janssen Ich kann für mich entscheiden, wie ich damit umgehe. Da bin ich vielleicht für jemanden Vorbild, und er beginnt auch damit, sich zu öffnen. Oder ich bin für jemanden Feindbild, und er sagt, das ist mir zu nah. Beides ist in Ordnung. Denn in dem Moment, wo wir anfangen, etwas verpflichtend zu gestalten, verliert es an Authentizität. Dann ist schon wieder Druck wieder da.

Das wurde als Vorwurf formuliert. Upstalsboom sei sektenähnlich, sagte ein Gewerkschafter. Trifft Sie das?

Janssen Ich habe die Grundhaltung, erst einmal zu verstehen, wieso denkt und fühlt er so? Das gilt auch für Kommentare auf Facebook oder unter meinen Büchern bei Amazon. So ein Kommentar sagt ja meistens mehr über den Kommentator als über den, der kommentiert wird. Gute Erfahrungen haben wir damit gemacht, diese Menschen einzuladen. Weil die so kritisch reingegangen sind und auch Dinge aufgezeigt haben, war das auch für uns sehr gut.

Suchen Sie nur Kontakt zu Ihren Kritikern oder generell einen Erfahrungsaustausch mit Personalmanagern oder Unternehmern?

Janssen Wir laden alle zwei Jahre 120 Leute zu unserer Entwicklungswerkstatt ein. Zaungäste, Politiker, Wissenschaftler wollen immer gucken, was wir so tun. So entstehen Innovationsprozesse. Doch in allererster Linie entstehen die Innovationsimpulse aus den Anforderungen, die uns der Markt, die Gesellschaft, die Situation stellt. Wie eine Pandemie, die extrem unbequem und mindestens genauso wertvoll ist. Die Entwicklungskurve in den vergangenen 18 Monaten war so steil für uns und in jeglicher Hinsicht positiv. Wir sind traurig mit Blick auf die Menschen, die krank geworden, die gestorben sind, und auch mit Blick auf die Unternehmen, die es erwischt hat. Aber für uns war das die stärkste Zeit überhaupt. Es ist immer eine Frage der Haltung. Wir haben für uns gesagt, dass wir alles, was uns begegnet, als Chance verstehen, uns weiterzuentwickeln. Mit die wichtigste Eigenschaft für eine Führungskraft der Zukunft ist Geduld, gekoppelt mit Gelassenheit und Demut. Wettbewerb halte ich dagegen für kritisch. Ich bin da ganz bei Soziologie-Professor Hartmut Rosa aus Jena, der in der Betrachtung des Wettbewerbs Selbstdistanzierung und Selbstentfremdung findet. Im Unternehmen gewinne ich aber nur, wenn ich sehr dicht bei dem bin, was meine Identität als Unternehmen ausmacht.

Aber bestimmte Mechanismen des Wettbewerbs muss man trotz dieser Haltung übernehmen, damit man nicht pleitegeht.

Janssen Ich muss damit arbeiten. Die Frage ist, inwieweit ich den Wettbewerb zum Maßstab meiner Entscheidungen mache. Es geht ja immer um das rechte Maß, darum, im Gleichgewicht zu sein. Die Zahl dient dem Menschen. Ebenso die Checkliste und die Bürokratie. Ich habe ja Menschen erlebt in Unternehmen, die überhaupt nicht mehr den Sinn dessen wahrnehmen können, wofür sie täglich antreten, weil sie nur damit beschäftigt sind, Checklisten auszufüllen. Die Checkliste ist nicht das Teufelszeug, sondern die Einstellung dazu. Wenn der Mensch der Checkliste dient, wie momentan in vielen Teilen unserer Wirtschaft, weil er Angst davor hat, Verantwortung zu übernehmen, dann kann das kontraproduktiv sein. Aber wenn die Checkliste dem Menschen dazu dient, das zu erreichen, was für ihn in dieser Situation wichtig ist, dann ist sie wieder gut. Ich muss mich immer fragen: Was ist für mich Mittel, was Zweck?

Upstalsboom wollte vor der Pandemie den Zweck ändern, sollte in eine Stiftung überführt werden. Hat Corona diese Idee ausgebremst?

Janssen In der Geschwindigkeit ein wenig, wir haben ein dreiviertel Jahr Verspätung. Aber die Umwandlung findet nach wie vor statt. Die Satzung der gemeinnützigen Stiftung steht, sie wurde mit den Mitarbeitern erarbeitet. Es soll zwei Stiftungen geben: eine Familienstiftung und die gemeinnützige Stiftung. Alles, was damit verdient wird, wird in gemeinnützige Zwecke fließen. Also jeder Euro Gewinn fließt in Zukunft in gemeinnützige Zwecke, in Bildung und Gesundheit. Wir wollen alles im Laufe des Jahres 2022 umsetzen.

Warum machen Sie das? Sie könnten doch noch lange Ihre Idee als Hotelier umsetzen.

Janssen Wenn ich den Menschen in den Mittelpunkt stelle, dann ist das die letzte Konsequenz. Es schließt den Kreis, wenn das, was das Unternehmen erwirtschaftet, auch zu 100 Prozent in die Stärkung der Menschen fließt – in Bildung und Gesundheit. Alles andere wäre nicht vollendet. Wenn ich also dieses Konzept als Mittel zum Zweck dafür verwenden würde, nur gute Gewinne zu schreiben, dann wäre es auch schon nicht mehr plausibel und echt. Es gab aber auch mehrere Motivationen aus der Familie heraus. Wir wollen unseren Kindern die unbewusste Verpflichtung oder Bürde nehmen, in die Nachfolge treten zu müssen. Ich erlebe sehr viele Unternehmensnachfolgen mit unglücklichen Menschen, die einfach nicht verstanden haben, Nein zu sagen. Unseren Kindern sagen wir, dass sie sich in diesen Prozess begeben können. Allerdings werden sie nicht Kraft ihrer Familienzugehörigkeit in die Führung des Unternehmens kommen können. Ich bin jetzt 47. Im Kloster kommt alle zwei Jahre eine Delegation zur Visitation. Sie stellt den Mönchen mit Blick auf den Abt die Vertrauensfrage. Wenn ich 50 bin, also 2024, werde ich zum ersten Mal diese Vertrauensfrage stellen. Und wenn sie dann negativ ausfällt, dann war ich der Letzte, der kraft der Familie diese Position besetzt hat.

Transparenz und Demokratie. Die Upstalsboom Hotel + Freizeit GmbH + Co. KG in Emden betreibt 80 Betriebe als Hotel und Ferienwohnanlagen, die meisten Immobilien sind im Besitz der Hoteliersfamilie Janssen, die das Unternehmen 1976 gründete. Der Upstalsboom-Weg – benannt nach dem Baum, an dem die friesischen Häuptlinge ihre Pferde im Mittelalter anbanden, um gemeinschaftlich die Friesische Freiheit zu organisieren – führt heute zu transparentem Wirtschaften und demokratischen Prozessen in den Teams der einzelnen Häuser mit dem übergeordneten Ziel, die Menschen bei ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Rund 700 Mitarbeiter erwirtschafteten 2019 einen Umsatz von 48,1 Millionen Euro. Jüngste Projekte sind Apartments im Krusespeicher in Wismar und das Upleven in Wremen, ein Hotel der Zeit und Stille.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Ralf Steuer und Ruth Lemmer.

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