PERSONALFÜHRUNG - Herausgeberinterview: „Eine nie dagewesene Herausforderung“

Im Interview mit IAB-Direktor Bernd Fitzenberger

IAB-Direktor Bernd Fitzenberger über die betrieblichen Folgen der Coronapandemie, Szenarien für die volkswirtschaftliche Entwicklung und die langfristigen Herausforderungen für den deutschen Arbeitsmarkt

Professor Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), sieht Politik und Wirtschaft vor einem schwierigen Abwägungsproblem: Auf der einen Seite stehe der Gesundheitsschutz der Bevölkerung, auf der anderen Seite ein wirtschaftlicher Abgrund. Bei einer schrittweisen Normalisierung der Wirtschaftstätigkeit bis zum Jahresende hält das IAB einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 8,4 Prozent und ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit auf über drei Millionen für plausibel. Aber auch eine massive systemische Krise lasse sich derzeit nicht ausschließen, so Fitzenberger. Mit einem Ende der Globalisierung rechnet er dennoch nicht, auch wenn Unternehmen infolge der Pandemie zunächst auf kürzere Lieferketten setzen.

PROF. BERND FITZENBERGER, PhD ist seit September 2019 Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und seit 2015 Professor für Ökonometrie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte an der Universität Konstanz und an der Stanford University in den USA Volkswirtschaftslehre, Mathematik und Statistik. 1993 promovierte er an der Stanford University mit einem PhD in Economics. 1998 habilitierte er an der Universität Konstanz und wurde zum Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Sozialpolitik an der Technischen Universität Dresden berufen. Von 1999 bis 2004 hatte er den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Ökonometrie an der Universität Mannheim inne, von 2004 bis 2007 den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Labor Economics an der Goethe-Universität Frankfurt und von 2007 bis 2015 den Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Herr Professor Fitzenberger, Sie leiten seit vergangenem Jahr das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Wie stark ist Ihre Arbeitslast als Berater der Politik seit Beginn der Coronakrise gestiegen?
PROF. BERND FITZENBERGER, PhD Ich würde sagen, die Arbeitslast hat sich verschoben. Das Institut kennenzulernen und in die Rolle als wissenschaftlicher Direktor hineinzuwachsen, war natürlich mit einer umfangreichen Einarbeitung verbunden. Ich bin froh, dass die Coronakrise nicht mit dem Beginn meiner Arbeitszeit zusammenfiel. Das erste halbe Jahr war bereits sehr spannend, aber bei rund 300 Mitarbeitern auch mit einer sehr hohen Arbeitslast verbunden. Auch in den Kontexten, in denen das IAB als beratende Einrichtung tätig ist, hat es sehr viele Gespräche gegeben. Das IAB ist 2018 sehr gut aus der Bewertung durch den Wissenschaftsrat gekommen, trotzdem ergeben sich aus den Empfehlungen des Wissenschaftsrats einige Hausaufgaben für das Institut. Wir hatten bereits erste Konzepte entwickelt, wie wir die Forschungsagenda leicht anpassen, doch das wird jetzt natürlich überlagert von der Coronakrise und den notwendigen Anpassungen unserer Aktivitäten. Wir haben eine Taskforce gegründet, wir sind mehr denn je digital aktiv. Aus der Politik und aus dem Bereich der Selbstverwaltung der Bundesagentur kommen jetzt ganz andere Fragen als noch vor zwei Monaten. Und die wollen wir natürlich fundiert beantworten.

Wir hören, dass es in der Politik heute eine größere Bereitschaft gibt, wissenschaftlichem Rat zu folgen, als in der Finanzkrise. Nehmen Sie das ebenfalls so wahr?
FITZENBERGER Ich persönlich hatte in der Finanzkrise keine beratende Rolle inne, deshalb bin ich hier ein Stück weit außen vor. Aber auch damals hatte sich das IAB durch Bildung einer Taskforce sehr gut und schnell auf den Beratungsbedarf in der Krise eingestellt. Das Institut war damals ein wichtiger Impulsgeber im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Auch der Sachverständigenrat und die anderen Wirtschaftsforschungsinstitute waren sehr stark eingebunden. Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass wir Wissenschaftler sehr schnell gefragt sind und auch kurzfristig Antworten geben müssen. Das führt natürlich zu einem Dilemma. Wir haben beispielsweise am IAB im laufenden Jahr die turnusgemäße Prognose zur Arbeitsmarktentwicklung nicht wie sonst üblich durchgeführt, weil das mit den üblichen Analyseinstrumenten und den damit einhergehenden Qualitätsstandards, wie Angaben zur statistischen Streuung der Prognose, derzeit nicht möglich ist. Stattdessen sprechen wir von einer Vorausschau und entwerfen mehrere Szenarien.

Wie sehen diese aus, wo liegen die Unwägbarkeiten?
FITZENBERGER Wir wissen nicht, in welchen Schritten die Politik die Lockerungen durchführen wird und in welchen Schritten der Austausch mit unseren Handelspartnern möglich wird. Zum jetzigen Zeitpunkt hält das IAB das folgende Szenario für plausibel: Wenn wir davon ausgehen, dass eine schrittweise Normalisierung der Wirtschaftstätigkeit in den von den Eindämmungsmaßnahmen betroffenen Bereichen bis zum Jahresende stattfindet, dann dürfte das Bruttoinlandsprodukt um 8,4 Prozent zurückgehen. Die Arbeitslosigkeit dürfte dabei auf einen Wert über drei Millionen ansteigen. Auch im zweiten Halbjahr des Jahrs 2020 wird die Wirtschaftsleistung deutlich unterhalb des Niveaus von 2019 liegen. Aber die weitere Entwicklung steht und fällt mit der Dauer der Schließungsmaßnahmen und für das Exportland Deutschland insbesondere damit, wie sich der Austausch mit unseren Handelspartnern entwickelt. So kann heute auch noch niemand ausschließen, dass wir eine massive systemische Wirtschaftskrise bekommen. Für diese haben wir keine Rechenmodelle. Wir können nicht seriös prognostizieren, wie weit es nach unten gehen kann, wenn die Abwärtsspirale wesentlich dramatischer wird. Das ist leider nicht völlig auszuschließen, ich will aber auch keine Schwarzmalerei betreiben. Man kann derzeit nur Schätzungen unter bestimmten Annahmen vornehmen.

Lassen sich heute schon Meilensteine für den Weg in eine neue Normalität, wie auch immer die geartet sein mag, ausmachen?
FITZENBERGER Wir haben ein ganz schwieriges Abwägungsproblem. Auf der einen Seite steht der Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Auf der anderen Seite stehen wir vor einem wirtschaftlichen Abgrund, der durch den Stillstand jeden Tag breiter wird. Wir haben nie dagewesene Anzeigen von Kurzarbeit. Aus wirtschaftlichen Gründen wäre eine schnelle Rückkehr zur Normalität wünschenswert. Wir wissen gleichzeitig, dass das Gesundheitssystem überfordert ist, wenn die Ansteckungszahlen zu hoch sind. Hier geht es um ganz schwierige politische Abwägungsprobleme, die in einem schrittweisen Verfahren alle 14 Tage überprüft werden sollen. Es wäre natürlich wünschenswert zügig voranzukommen, um den wirtschaftlichen Schaden so gering wie möglich zu halten. Groß wird der Schaden aber in jedem Fall sein, da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Für eine Exportnation wie Deutschland wird auch sehr viel davon abhängen, wie unsere Handelspartner, insbesondere in der Europäischen Union, zur Normalität zurückkehren können.

Rechnen Sie damit, dass sich unsere Art zu wirtschaften verändern wird, sei es durch die Verkürzung globaler Lieferketten oder durch das stärkere Vorhalten liquider Mittel in der Finanzplanung?
FITZENBERGER Es ist noch zu früh, das abschließend zu beurteilen. Für die Phasen der Krise, der Lockerung und des Wiederhochfahrens werden Unternehmen sicher anders disponieren müssen. Und die Gefahr eines Rückfalls, einer erneuten Schließung, kann nicht ausgeschlossen werden. Die Unsicherheit, ob Unternehmen Termine zusagen können, wächst dadurch. Dies wird dazu führen, dass Unternehmen stärker Vorräte halten, als das bisher üblich war. Ob die Situation sich langfristig normalisieren wird, müssen wir abwarten. Aber zumindest mittelfristig werden Unternehmen wohl stärker auf nationale oder europäische Firmen für unverzichtbare Zulieferungen setzen und die Lagerhaltung anpassen. Ich rechne aber langfristig nicht mit einem Ende der Globalisierung und einem Rückzug zu einem national oder europäisch autarken Wirtschaften.

Wo liegen die größten Herausforderungen für den betrieblichen Alltag?
FITZENBERGER Für die Betriebe wird die große Herausforderung sein, beim kontrollierten Hochfahren der Wirtschaft die Arbeitsorganisation so zu gestalten, dass das Ansteckungsrisiko der Beschäftigten minimiert wird. Es gilt, besonders auf Beschäftigte aus Risikogruppen zu achten, auf die über 60-Jährigen oder auf jene mit Vorerkrankungen. Die Pandemie wird ja nicht verschwinden, und Ansteckungen werden sich nicht völlig vermeiden lassen. Die Arbeitsorganisation wird total durcheinandergewirbelt. Es wird immer wieder zu Ausfällen kommen, weil ein Mitarbeiter erkrankt und dann möglicherweise das ganze Umfeld in Quarantäne gehen muss. Die Betriebe stehen hier vor einer nie dagewesenen Herausforderung, es werden intensive Abstimmungen zwischen Betriebsräten und Unternehmen notwendig sein.

Laufen wir Gefahr, durch die derzeitige akute Situation den Blick auf lange Problemlinien zu verlieren?
FITZENBERGER Aktuell steht natürlich die Krisenbewältigung an. Die aktuellen Maßnahmen dienen dem Bewahren des Status quo, damit uns nicht das wegbricht, was an wirtschaftlicher Aktivität, an Produktion existiert, und dadurch eine Abwärtsspirale entsteht. Die kurzfristige Krise verschiebt zwar den Blick, die längerfristigen Trends im Arbeitsmarkt verschwinden aber nicht. Die Themen Demografie, technischer Wandel, Digitalisierung oder ökologische Transformation werden uns weiter begleiten. Beim Punkt Digitalisierung bringt uns die Krise möglicherweise auch voran. Wir lernen jetzt mehr denn je, im Homeoffice zu arbeiten, wir nutzen neue Medien für Gespräche und Zusammenarbeit. Das wird auch die Arbeitsorganisationen verändern. Es wird sicher auch in Zukunft einen hohen Bedarf für persönlichen Austausch geben. Aber die Prozesse, die wir jetzt einüben, werden ihre Spuren auch für die Zukunft hinterlassen.

Ihr IAB-Kollege Enzo Weber hat einen Rettungsschirm für Neueinstellungen gefordert. Was ist damit gemeint?
FITZENBERGER Ein Rettungsschirm für Neueinstellungen ist absolut sinnvoll. Viele Unternehmen haben sich beispielsweise vor acht oder zehn Wochen für Neueinstellungen entschieden, die Bewerber rechneten mit den neuen Jobs. Dann kam völlig unerwartet diese Krise. Für die Stabilisierung der Beschäftigung ist es daher wichtig, dass man die Neueingestellten auch in die Kurzarbeitergeldregelung einbezieht.

Sie haben 2014 den Aufstieg Deutschlands vom sprichwörtlichen kranken Mann zu Europas Superstar untersucht. Entscheidend, so Ihr Befund, waren nicht die Hartz-IV-Reformen, sondern andere Besonderheiten des deutschen Arbeitsmarkts.
FITZENBERGER Zusammen mit Christian Dustmann, Uta Schönberg und Alexandra Spitz-Oener habe ich die Entwicklung der Flexibilität am Arbeitsmarkt, der Produktivität und der Wertschöpfungsketten in Deutschland untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass sich schon in den 90er-Jahren der Anstieg der Lohnungleichheit und damit das Entstehen dessen, was wir heute Niedriglohnsektor nennen, angebahnt haben. Gleichzeitig zeigte sich, dass es in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre zu einem gravierenden Rückgang der Lohnstückkosten kam, im Gegensatz zu allen Wettbewerbern. Den Schlüssel zur Wandlung vom kranken Mann Europas zum ökonomischen Superstar sahen wir darin, dass sich das verarbeitende Gewerbe dramatisch verändert hat. Die Wettbewerbssituation der deutschen Volkswirtschaft verbesserte sich durch Veränderungen in den Produktionsprozessen: Prozesse, die produktiv waren, sind verstärkt worden, weniger produktive Prozesse wurden ausgelagert und zu niedrigeren Lohnkosten durchgeführt. Man könnte sagen, die Industrie hat sich neu erfunden. Eine entscheidende Rolle kam dabei dem Zusammenspiel mit den Tarif- und Sozialpartnern zu, die diese Prozesse begleiteten. Sie halfen bei der Reorganisation der Arbeit und der Nutzung von Flexibilisierungspotenzialen. Die Hartz-Reformen haben dann geholfen, zusätzlich Erwerbstätige in den Arbeitsmarkt zu bringen. Ursächlich für die Veränderung waren sie nicht.

Neben teilzeitarbeitenden Frauen sind Langzeitarbeitslose eine wichtige Potenzialgruppe für den Arbeitsmarkt. Trotz Beschäftigungsboom in den vergangenen Jahren ist es nicht in gleichem Maß gelungen, SGB-II-Arbeitslose zu aktivieren. Warum?
FITZENBERGER Wenn man sich die reinen Zahlen anschaut, ist es natürlich so, dass es immer länger braucht, dass SGB-II-Arbeitslose eine Stelle finden. Wir befinden uns derzeit am Ende eines Beschäftigungsbooms von noch nie dagewesener Länge. Gerade die letzten zwei Jahre haben noch mal einen deutlichen Rückgang der SGB-II-Arbeitslosenzahlen gezeigt. Und vor der Coronakrise, am Anfang des Jahres, war ich sehr optimistisch, dass wir auch noch deutlich weiter vorankommen. Es gibt natürlich einen harten Kern von Menschen, die sehr lange nicht beschäftigt waren, bei denen beispielsweise gesundheitliche Einschränkungen vorliegen und die es sehr schwer haben, einen Arbeitgeber zu finden.
Die Konzessionsbereitschaft der Arbeitgeber ist aber im Zuge der Arbeitskräfteengpässe deutlich angestiegen. Das Teilhabechancengesetz setzt ja mit § 16i SGB II daran an, für Menschen, die sechs Jahre aus dem Arbeitsmarkt raus waren, eine Brücke zu bauen mit einer sehr intensiven Begleitung und einer Lohnsubventionierung. In den nächsten Jahren werden wir sehen, wie dieses spannende Instrument im sozialen Arbeitsmarkt wirkt. Jetzt wird der Effekt aber vermutlich durch die Coronakrise negativ beeinflusst. Wenn wir über Langzeitarbeitslosigkeit sprechen, muss man auch bedenken: Wir haben einen hohen Anteil von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Im Bereich der Qualifizierung wollte man mehr tun, auch um den Fachkräftebedarf zu adressieren. Und schließlich muss man beachten, dass SGB-II-Arbeitslosigkeit zum Teil auch daraus entsteht, weil der Anspruch auf das Arbeitslosengeld nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern. Es fallen also auch Menschen in die Grundsicherung, weil sie nur niedrige Arbeitslosengeldansprüche haben. Oder Soloselbstständige nehmen das SGB II in Anspruch, weil die Erwerbstätigkeit nicht reicht, um den Lebensbedarf zu decken.

Um die Effekte des demografischen Wandels zu kompensieren, brauchen wir heute eine Nettozuwanderung von 400 000 Menschen pro Jahr. Dennoch scheint der Schmerzpunkt am Arbeitsmarkt noch nicht erreicht zu sein. Wenn derzeit einzelne Bundesländer bereit sind, Anerkennungsverfahren für syrische Ärzte zu verkürzen, ist das ausschließlich der Krise geschuldet. Wie können wir hier besser werden?
FITZENBERGER Ich stimme Ihrem Befund zu, das ist auch die Position im IAB. Wenn man das Erwerbspersonenpotenzial konstant halten will, braucht man eine Nettozuwanderung in der genannten Größenordnung. Es gibt allerdings auch beim inländischen Erwerbspersonenpotenzial noch Luft nach oben. Bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen und von Älteren gab es bereits deutliche Zuwächse, aber hier ist auch immer noch Spielraum. Man könnte sich einen früheren Einstieg in den Arbeitsmarkt oder eine noch stärkere Aktivierung von SGB-II-Arbeitslosen vorstellen. Aber an Nettozuwanderung führt kein Weg vorbei und ebenso an einer Erleichterung der Anerkennungsverfahren. Natürlich gibt es Berufe, da ist der formale Abschluss zwingende Voraussetzung. Aber selbst da sind flexiblere Lösungen vorstellbar.
So könnte man bei dem von Ihnen genannten Beispiel mit den syrischen Ärzten eine Anerkennung und Arbeitserlaubnis auf Probe aussprechen und gegebenenfalls notwendige ergänzende Zertifizierungen nachholen. In der Coronakrise sehen wir, wie schnell so etwas funktionieren kann. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird sehr viele Verfahren erleichtern und verbessern. Bei der Migration im Allgemeinen, auch aus den anderen europäischen Ländern, steht natürlich die Frage im Raum, wie interessant wir tatsächlich sind. Vor dem Hintergrund der auch in anderen Ländern relativ guten wirtschaftlichen Lage in den letzten Jahren haben wir zum Teil Rückwanderungstendenzen in die Heimatländer gesehen. Wie sich das jetzt mit der Krise neu austariert, wird man sehen. Aber: Deutschland wird sich als Zuwanderungsland attraktiv machen müssen, um Fachkräfte zu gewinnen.

Viele Bildungsexperten haben in den letzten Wochen für eine rasche Rückkehr von Schülern in die Schulen geworben, weil es in ärmeren Haushalten keinen Computer gibt, über den ein digitaler Ersatzunterricht durchführbar wäre. Auch 2020 haben Akademikerkinder größere Chancen zu studieren als Arbeiterkinder.FITZENBERGER Wir sollten das aktuelle Krisengeschehen und die generellen Strukturprobleme nicht vermischen. Es ist natürlich richtig, dass eine Familie mit einem höheren Bildungshintergrund möglicherweise auch offener für die digitalen Medien ist. Aktuell fallen Kinder aus Familien mit einem niedrigeren Bildungshintergrund und weniger digitaler Affinität zurück. Leistungsschwache Kinder fallen aber auch zurück, weil sie sich schwerer tun mit dem eigenständigen Lernen. Je mehr Bildungsaktivitäten in die Familien verlagert werden – Hausaufgaben, selbstständiges Arbeiten zu Hause, Recherchen im Internet –, desto mehr können Eltern mit einem höheren Bildungshintergrund helfen. Das schlägt in dieser Krise noch mal besonders durch.
Was aber können wir generell tun, um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit im Bildungssystem besser umzusetzen? Ich denke, hier muss in den Schulen noch viel stärker auf die Förderung von leistungsschwächeren Schülern aus bildungsfernen Haushalten gesetzt werden. Hier wäre eine Ganztagsschule, in der Schülerinnen und Schüler mit Hausaufgabenbetreuung und sozialpädagogischer Begleitung unterstützt werden, sinnvoll, um Defizite auszugleichen. Da sind die deutschen Schulen noch nicht optimal aufgestellt. Die Systemfrage würde ich aber deshalb nicht stellen. Das kann innerhalb des dreigliedrigen oder zweigliedrigen Schulsystems passieren. Wir brauchen eine Art von Diversitätsmanagement, das auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler abgestellt wird. Ganz wichtig ist es auch, die Begeisterung für Bildung zu steigern. Und natürlich darf Bildung nicht an finanziellen Ressourcen scheitern. Für ärmere Haushalte könnte man sich weitere Unterstützung vorstellen.

Mit dem dualen Modell verfügt Deutschland über ein hervorragendes Ausbildungsmodell. Dennoch scheitern viele Jugendliche im Übergang. Was lässt sich hier verbessern?
FITZENBERGER Die sinkende Ausbildungsneigung von Jugendlichen und die in der Vergangenheit zu beobachtende Zunahme der unbesetzten Lehrstellen liegen vor allem daran, dass leistungsstärkere Schüler viel seltener die duale Ausbildung als ihren Lebensweg ansehen. Wir haben keine Zunahme des Scheiterns, aber wir haben einen konstant hohen Sockel von leistungsschwächeren Jugendlichen, denen keine Integration über eine duale Ausbildung gelingt. Diese gehen ins Übergangssystem oder bleiben in schulischen Systemen. Auch die Zahl der Schüler, die keinen Schulabschluss haben, nimmt eher ab, weil hier sehr viele Förderformen existieren. Bei den folgenden Ausbildungen sind Abbrüche ein großes Thema, insbesondere in Sektoren, die als nicht so attraktiv wahrgenommen werden. Der Rückgang der Ausbildungsbeteiligung hängt schließlich auch damit zusammen, dass die Jahrgänge kleiner werden, aber vor allem damit, dass ein größerer Teil der Jugendlichen aufs Gymnasium geht mit der Zielrichtung Hochschulstudium. Hier löst übrigens auch die Migration nicht die Probleme. Das Interesse an einer dualen Ausbildung ist bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich niedriger. Dort sind die Bildungsaspirationen noch stärker auf eine akademische Ausbildung als bei inländischen Jugendlichen fokussiert. Ein sehr vielschichtiges Thema.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führten Norma Schöwe und Werner Kipp.
 

Über IAB

Arbeitsmarktforschung und Politikberatung. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erforscht den Arbeitsmarkt, um politische Akteure auf allen Ebenen kompetent zu beraten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ökonomie, Soziologie und weiteren sozialwissenschaftlich und methodisch ausgerichteten Disziplinen schaffen durch exzellente, national wie international vernetzte Forschung die Basis für eine empirisch informierte Arbeitsmarktpolitik. Das IAB trägt im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags zu einem besseren Verständnis der Funktionsweise des Arbeitsmarkts, der Erwerbschancen und der Lebensbedingungen in einer sich dynamisch verändernden Welt bei. Forschungs- und Publikationsfreiheit garantieren, dass unabhängiger und damit auch kritischer Rat erteilt werden kann. Das Institut wurde 1967 als Forschungseinrichtung der damaligen Bundesanstalt für Arbeit gegründet und ist seit 2004 eine besondere Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit. Das IAB hat seinen Sitz in Nürnberg und ist mit seinem regionalen Forschungsnetz bundesweit an zehn weiteren Standorten präsent.

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