Friedemann Schulz von Thun blickt auf ein Leben zurück, das in vielerlei Hinsicht erfüllt war. Nun übt er sich „wieder einmal als Lehrling“, wie er sagt, diesmal im Älterwerden. Das gelingt ihm überzeugend, wenn er freundlich bis schmunzelnd auf den Zustand der Kommunikation in unserer Gesellschaft eingeht und Führungskräften rät, kontaktfähig zu bleiben. Dass nicht nur im Rückblick auf ein Leben von Sinnerfüllung gesprochen wird, sondern mehr denn je auch in der Arbeitswelt, begrüßt Schulz von Thun.
Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun ist als Kommunikationspsychologe mit seiner durch ihn begründeten humanistisch-systemischen Kommunikationspsychologie und seinen Werken, die Standards in der berufsbezogenen Weiterbildung und im Coaching sind und bereits im Schulunterricht vermittelt werden, über Deutschland hinaus bekannt geworden – insbesondere mit dem Kommunikationsquadrat und den vier Ohren, mit denen gehört, und den vier Schnäbeln, mit denen gesprochen wird. Schulz von Thun, 1944 in Soltau geboren, studierte von 1967 bis 1971 Psychologie, Philosophie und Pädagogik in Hamburg. Nach Promotion und Assistenzzeit habilitierte er sich 1975 und wurde Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. 2009 wurde er dort pensioniert. Schulz von Thun wirkt weiterhin am „Schulz von Thun Institut für Kommunikation“ in Hamburg als Trainer, Coach und Autor.
Herr Schulz von Thun, wir sprechen virtuell miteinander, was in der Arbeitswelt seit Corona gang und gäbe ist. Verändert Virtualität Ihr Lebensthema: die Kommunikation zwischen Menschen?
Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun Ja! Alles, was in der präsenten Zusammenkunft und in diesem energetischen Wir-Raum implizit gegeben ist, muss im virtuellen Raum hergestellt, gewährleistet, gestiftet werden. Wenn ich jetzt etwa Herrn Steuer anschaue, den Blickkontakt zu ihm aufnehme, merkt er das nicht. Wir sind bei der virtuellen Kommunikation alle in unseren „eingerahmten Briefmarken“, das vibrierende Wir muss erst gestiftet werden.
Ihr Kommunikationsquadrat mit Sach‑, Beziehungs‑, Selbstoffenbarungs- und Appellebene ist weltberühmt geworden. Spielt dabei auch eine Rolle, was jenseits des ausgesprochenen Worts stattfindet?
Schulz von Thun Unbedingt! Das Nonverbale hat ja auch vier Seiten. Nehmen Sie den Beziehungsaspekt: Der wird sehr stark auch über nonverbale Signale hergestellt, ein verschmitztes Lächeln etwa an der richtigen Stelle zu einer bestimmten Person. Das Kommunikationsquadrat wird jetzt im virtuellen Raum doppelt und dreifach wichtig. Beispiel Appell: Rein durch einen scharfen Blickkontakt kommt der jetzt nicht mehr ohne Weiteres rüber – er muss explizit ausgesprochen und deutlich adressiert werden.
Gibt es ein bestimmtes Maß der virtuellen Kommunikation, das in Unternehmen nicht überschritten werden sollte?
Schulz von Thun Das Verhältnis von virtueller Kommunikation und präsenter Zusammenkunft muss mit den jeweiligen Aufgaben und den situativen Umständen in Übereinstimmung gebracht werden. Und mit den Persönlichkeiten! Da lohnt es sich, wenn Mitarbeitende und Führungskräfte miteinander klären: Was können wir virtuell machen? Wie oft und zu welchen Anlässen müssen wir uns unbedingt sehen und einander begegnen? Was braucht der oder die Einzelne, um aufzublühen?
Stark auf der Sachebene, Spätentwickler auf der Beziehungsebene
Ihr Buch „Erfülltes Leben“ ist ja auch ein sehr persönliches. Sie schreiben von Ihrem Vater, der anderes mit Ihnen vorhatte. Warum hat Sie das Thema Kommunikationspsychologie so in den Bann gezogen?
Schulz von Thun Dafür waren eine äußere und eine innere Entwicklung maßgeblich. Ich habe über verständliche Informationsvermittlung promoviert, dann kam 1970 BP auf uns zu und wollte nicht nur die Informationsebene verständlicher machen, sondern auch die Beziehungsebene partnerschaftlicher gestalten. Nach 68 war das Autoritäre in Verruf geraten, jetzt galt es, die Kommunikation auf Augenhöhe einzuüben. Das war die äußere Entwicklung, die meinen Eintritt in den Psychologenberuf stark geprägt hat. Aber gleichzeitig war da auch eine innere Entwicklung. Ich selber war, so würde ich es heute ausdrücken, ein Spätentwickler auf der Beziehungsebene. Auf der Sachebene konnte ich eloquent reden, aber für Fragen, wie es mir ums Herz ist, wie ich zu jemand stehe und wie wir miteinander umgehen, hatte ich keine Sprache. In meinem Elternhaus gab es viel Verstimmung und Verstummung. Hier war ich selbst überaus entwicklungsbedürftig.
Ihr Kommunikationsquadrat ist eine Hilfe für die Metakommunikation, aber auch anspruchsvoll in der Umsetzung. Haben Sie schon einmal zu jemandem gesagt: „Das ist mir zu anstrengend, ich breche die Kommunikation ab“?
Schulz von Thun Ich weiß nicht, ob mir das wortwörtlich so über die Lippen gekommen ist. Aber auf jeden Fall gilt: Bevor ich mit jemandem etwas kläre, muss ich entscheiden, ob es für mich stimmig ist, mit ausgerechnet dieser Person zu genau diesem Thema zu diesem Zeitpunkt zu sprechen – oder nicht. Von dieser Vorklärung hängt alles ab.
In sehr polarisiert geführten Debatten kann nicht selten nicht einmal ein gemeinsam geteilter Sachbezug hergestellt werden. Wie lange lohnt es sich, an der Kommunikation zu arbeiten?
Schulz von Thun Ich würde keine generelle Empfehlung wagen. Vielleicht finde ich, dass wir zwar weit auseinander sind, aber ich habe eine neugierige Freude, das einmal mit dir auszufechten: Was ist der Hintergrund, und was treibt dich um, dass du diesen aus meiner Sicht verqueren Standpunkt einnimmst? In einer anderen Situation komme ich vielleicht bald zu dem Schluss: Es lohnt nicht, ein verächtliches Hin und Her fortzusetzen. Dann wäre der Abbruch der Kommunikation überaus stimmig. Und manchmal ist eine gute Trennung ein wahrer Segen. Es kann aber auch sein, dass man keine Wahl hat. Eltern, die sich trennen wollen, müssen miteinander reden, um tragfähige Regelungen zu erarbeiten und das Wohl der Kinder zu gewährleisten. Ebenso Tarifpartner, Kriegsgegner, politische Antagonisten – sie alle müssen miteinander reden, sonst droht Hauen und Stechen und Schlimmeres. Und immer besteht Hoffnung, dass die Wahrheit zu zweit beginnt und die Lösung auch!
Bleiben wir in der Arbeitswelt: Kann Metakommunikation hier überfordern? Schließlich geht es dabei immer auch
um Beziehung…
Schulz von Thun Man kann sie gut finden, aber muss ihr auch gewachsen sein. Sobald offen gesprochen wird und wunde Punkte berührt werden, geht es unter die Haut. Daher die Empfehlung: Begib dich im Team hin und wieder auf die Metaebene, solange noch nichts Heikles im Busch ist! Sobald wir eine tragfähige Metakultur entwickelt haben und Vertrauen gewachsen ist, können auch Konflikte und schwierige Themen besprochen werden. Dann darf und soll es auch mal „persönlich“ werden.
Als Führungskraft Gespräche vorklären
Auf welche Ereignisse und Sachverhalte beziehe ich mich? Das ist die Sachebene. Selbstoffenbarung: Was sind meine Interessen und Bedürfnisse, vielleicht auch mein Gefühle? Die Beziehungsebene: Mache ich jemandem einen Vorwurf, und wenn ja, wie lautet der? Nehme ich jemandem vielleicht sogar etwas übel? Was kann ich würdigen? Kläre das innerlich gut vor, damit deine Botschaften auf der Beziehungsebene deutlich werden, da ist dein Gegenüber besonders sensibel. Schließlich der Appell: Was ist mein Wunsch, meine Forderung, meine Bitte, meine Empfehlung? Eine solche quadratische Vorklärung – und Selbstklärung – ist ein wahrer Segen für die Gesprächskultur und macht mich kontaktfähig auf allen vier Ebenen der Begegnung. Wenn ich dann auch noch empathisch mit vier Ohren zuhöre, kann alles nur noch gut werden.
Muss bei flachen Hierarchien und sich selbst organisierenden Teams nicht jeder kommunikativ fit sein?
Schulz von Thun Unbedingt! Eine gute Schulung darf kein Privileg einer Führungskraft mehr sein. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter, die oder der an der Kooperation teilnimmt, sollte kontakt- und beziehungsfähig sein. Der authentischen Führung erteilen Sie eine Absage.
Warum? Schließlich wird allerorten konstatiert, zu guter Führung gehörten Werte, Haltung – und Authentizität…
Schulz von Thun Authentizität ist die Übereinstimmung zwischen dem, wie ich bin und dem, wie ich mich gebe – das hat auch in meinem Denken einen hohen Wert. Allerdings fordert nicht jede Situation dazu heraus, dass ich mich unverfälscht zum Ausdruck bringe. Ich muss auch sehen, dass ich in meiner Rolle der Situation gerecht werde und die Wirkung meiner Worte bedenke. Das nenne ich Stimmigkeit. Authentizität und Wirkungskalkül stehen immer in einem Spannungsfeld, es kommt darauf an, beides zu balancieren. Das nenne ich stimmige Führung: In Übereinstimmung mit mir selbst und aber auch mit dem, was die Situation mir abverlangt. Es kann durchaus sein, dass ich bestimmte Dinge, die in mir sind, sorgsam für mich behalte, weil die Situation es nicht verträgt, dass ich maximal authentisch bin.
Sie arbeiten mit Modellen wie dem Kommunikations- oder dem Werte- und Entwicklungsquadrat. Hat das mit Ihrer einstigen Leidenschaft für Schach zu tun?
Schulz von Thun Also zwischen 15 und 25 Jahren habe ich fast nur Schach gespielt. Ich war dem Leben irgendwie sonst nicht gewachsen, auf den 64 Feldern hingegen kannte ich mich sehr gut aus. Im Gegensatz zum Kreis, wo alles ineinander übergeht, ist das Quadrat ja sehr trennscharf konstruiert, da ist die Sachseite, da ist die Beziehungsseite und so weiter. Der Verstand liebt es, wenn er für die Analyse des Geschehens trennscharfe Unterscheidungen machen kann. Und ich musste mich erst einmal mit dem Verstand dem Zwischenmenschlichen nähern. Als ich angefangen habe zu verstehen, was da läuft, konnte ich es auch wagen, mich mit dem Herzen persönlich einzulassen.
Mit dem „Inneren Team“ arbeiten
Ihr Institut arbeitet im Rahmen von Trainings und im Coaching oft mit Führungskräften. Gibt es bestimmte Themen, mit denen diese auf Sie zukommen?
Schulz von Thun Ein Thema kommt immer wieder vor: Wie kann ich souverän sein und souverän bleiben in Situationen, die ein Dilemma enthalten, in denen ich selbst hin- und hergerissen bin oder wo mir etwas um die Ohren fliegt, das mich aufwühlt und mir womöglich den Schlaf raubt? Mir wird immer deutlicher, dass Führung nicht auf einem Minenfeld, aber auf einem Dilemmafeld stattfindet und dass dilemmabewusste Entscheidungen und dilemmabewusste Kommunikation das A und O sind.
In welche Richtung geht dann Ihre Arbeit?
Schulz von Thun Innere Souveränität beginnt damit, dass ich die verschiedenen Stimmen, die in mir miteinander ringen und uneins sind, wahrnehme, identifiziere und gelten lasse. Dafür habe ich das „Innere Team“ erfunden. Es enthält die Verheißung, dass es möglich ist, aus der Not eine Tugend zu machen: aus dem innerlich zerstrittenen Haufen ein inneres Team, das die Weisheiten jedes einzelnen Teammitglieds zu einer integralen Lösung zusammenführt. Selbstreflexion ist die Grundlage der Souveränität, und das Modell des Inneren Teams bietet hierfür die Philosophie und das Handwerkszeug.
Innere Konflikte, innere Pluralität: Haben Sie einen Ratschlag für Führungskräfte?
Schulz von Thun Liebe Führungskraft, werde dir bewusst, mit welcher inneren Mannschaftsaufstellung du das Feld der Führung betrittst! Wer ist bei dir dominant und sichtbar im Vordergrund, wer leitet dich im Hintergrund, und wen bräuchtest du vielleicht noch zusätzlich, um „gut aufgestellt“ zu sein? Das ist hochindividuell und sehr verschieden. Die eine sagt: Ich brauche einen Stoiker, denn ich gehe immer gleich an die Decke. Ein anderer sagt: Ich brauche einen Empathicus, der erst einmal hört, was im Herzen der anderen vorgeht. Und eine dritte sagt: Ich brauche einen Bodyguard, der sich allerlei Unverschämtheiten nicht bieten lässt, die ich immer weglächele. Also jemanden, der nicht nur Respekt erweist, sondern sich auch Respekt zu verschaffen weiß. Ich selber brauchte beispielsweise einen „Bruder Leichtfuß“, der nicht jede Misslichkeit so schrecklich tragisch nimmt.
Dimensionen eines erfüllten Lebens
In „Erfülltes Leben“ geht es um Wunsch‑, Sinn‑, biografische, Daseins- und Selbsterfüllung. Mit Ihrer eigenen
biografischen Erfüllung waren Sie zumindest eine Zeitlang nicht im Reinen…
Schulz von Thun Bei manchen Autoren, die über ihr Leben geschrieben haben, habe ich gedacht: Meine Güte, was da alles los war! Da stockt einem ja der Atem, das ganze Leben ein Krimi. Was die alles durchgestanden und erlitten haben oder welche Kämpfe sie auszufechten hatten. Verglichen damit ist mein Leben ab dem zweiten Lebensjahr in ruhigen Bahnen verlaufen. Ich war 35 Jahre im selben Office an der Hamburger Universität. Aber als ich dann mit den Augen von heute mal genauer zurückgeschaut habe auf frühere Erlebnisse, da habe ich dann doch einiges gefunden, was romanverdächtig sein könnte.
Was soll die Zukunft Ihnen an biografischer Erfüllung bringen?
Schulz von Thun Ich bin jetzt ein blutiger Lehrling, wieder einmal, diesmal im Altwerden. Ich bin schon mittendrin im
letzten Zehntel meiner Lebenserwartung. Wie gestalte ich mein Leben im Alter? Wie kann ich im Alter weise, freundlich und lebensbejahend werden und bleiben? Das scheint mir im Moment das wichtigste Thema zu sein. Und da lohnt es sich, wieder Lehrling zu sein. Habe ich ja noch nie gemacht vorher. Ich werde jetzt zum allerersten Mal in meinem Leben alt.
Sinnerfüllung, auch darum geht es in Ihrem Buch, ist ein Begriff, der stark in die Arbeitswelt eingedrungen ist. Was macht sinnerfülltes Arbeiten aus?
Schulz von Thun Ich finde es gut, dass die Frage gestellt wird: Wozu sind wir eigentlich da? Ist das von Sinn und Segen,
was wir produzieren? Eine Arbeit macht dann Sinn, wenn sie, und sei es nur in einem klitzekleinen Maßstab, dazu beiträgt, das Leben an irgendeiner Stelle für jemanden zu bereichern, Leiden zu vermindern oder die Schöpfung zu bewahren. Wenn jemand an der Kasse eines Supermarkts sitzt, trägt sie oder er dazu bei, dass Menschen ihre Lebensmittel bekommen auf eine geordnete Weise, dass es dabei kein Hauen und Stechen gibt. Das ist etwas wert, und das sollte auch wirklich wertgeschätzt werden, mit Worten – und mit Gratifikationen.
Geht es nicht auch um das Wie von Arbeit?
Schulz von Thun Und ob! Ich lebe ja nicht nur für das sinnvolle Produkt, sondern auch um meiner selbst willen – und ein erfülltes Leben steht und fällt mit der Qualität unseres Miteinanders auf Erden. Und Arbeitszeit ist Lebenszeit! Wie wir hier das Miteinander gestalten, davon hängt so viel ab, für die Produktivität und die Menschlichkeit gleichermaßen, übrigens auch für die Gesundheit.
Unternehmen müssen bereit sein, „etwas rauszurücken“
Auf dem Feld der „Daseinserfüllung“ geht es um das, was nicht planbar ist im Leben eines Menschen, um das, was ihm geschieht. Der Begriff der Würdigung spielt hier eine Rolle. Kann das Thema in die Arbeitswelt integriert werden?
Schulz von Thun Sollte es! Würdigung beginnt schon in der Wahrnehmung, dass ich ein Auge dafür habe, was jemand leistet, was jemand einbringt auf seine Art, durch seine oder ihre Leistung, durch Texte, durch Auftreten, im Stiften einer Atmosphäre. Wenn ich dafür ein Auge habe, dann kann ich das würdigen – statt immer bloß die Differenz von Soll und Ist vor Augen zu haben. Diese Haltung ist ein Segen für das Miteinander. Zwar möchte man nicht in jedem Moment gelobhudelt werden, aber doch in der Substanz gesehen und kritisch gewürdigt werden. Mein Werte- und Entwicklungsquadrat enthält eine Schule der Würdigung, dass ich etwa in dem Geiz eines Menschen auch seine Sparsamkeit entdecke.
Erlaubt das den Rückschluss, dass je würdevoller eine Unternehmenskultur ist, je mehr es Spaß macht an dieser teilzuhaben, desto weniger spielen materielle Dinge eine Rolle?
Schulz von Thun Ja, das würde ich sagen. Aber! Es gibt noch eine Wahrheit daneben und die lautet: Wertschätzung zeigt sich nicht nur in der Atmosphäre und in guten Worten, sondern auch daran, ob ich bereit bin, etwas rauszurücken. Das beglaubigt würdigende Worte, denn sonst gerät die menschliche Atmosphäre in den Verdacht, instrumentalisiert zu werden zwecks Einsparung. Jemanden wie eine königliche Hoheit behandeln, aber ihr nicht den Mindestlohn zahlen, das passt nicht zusammen.
Ein wichtiges Stichwort auf dem Feld der Daseinserfüllung, aber auch in anderen Ihrer Werke, ist Rolle. Wie bringen Sie verschiedene Rollen, die Sie innehatten oder innehaben, und Ihre Wesensart zusammen?
Schulz von Thun Die Rolle ist ein exzellenter Entwicklungshelfer! Sie gibt mir etwas, beispielsweise Bestätigung und Gelegenheiten für menschlichen Kontakt, aber sie verlangt mir auch etwas ab. Um der Rolle gerecht zu werden, muss ich mich selber weiterbringen, da reicht es nicht, sich selber treu zu bleiben. Meist muss und darf ich Fähigkeiten entwickeln, die mir von Haus aus fremd sind.
Was könnte Personalleiter oder Führungskräfte beim Thema Rolle inspirieren?
Schulz von Thun Habe den Mut, der Rolle gerecht zu werden, aber auf deine Art! Als Professor an der Uni etwa habe ich am Anfang alles richtig machen wollen, aber dann entdeckt: Ich bin intrinsisch motivierter, wenn ich im Umgang mit Studierenden, in der Lehre und in der Art, Bücher zu schreiben, meine Eigenart gelten lasse. Mich hat der Satz von Hesse inspiriert: „Es ist nicht meine Aufgabe, das objektiv Beste zu geben, sondern das Meinige so rein und aufrichtig wie möglich!“
Wie merkt jemand, dass sie oder er in der Rolle den Kontakt zu sich selbst verliert?
Schulz von Thun Wenn er oder sie nur noch bestenfalls „funktioniert“, aber nicht mehr beseelt und mit Liebe bei der Sache ist. Im Coaching wird dies oft zum Thema: Wie kann ich es schaffen, mit meiner Aufgabe (wieder) ein Herz und eine Seele zu werden, sodass ich nicht nur Pflichten erfülle, sondern mich auch in meiner Arbeit verwirkliche? Allein diese Frage zu stellen, ist schon ein Gewinn. Manchmal steht dann ein Gespräch mit dem Vorgesetzten an oder eine Umorientierung im Beruf. Und zuweilen steht eine „innere Teamentwicklung“ an: Wer in mir steht immer in vorderster Front und lässt andere Lebensgeister nicht zu? Vielleicht einer, der immer Bescheid weiß und Sicherheit ausstrahlt? Dann wird es vielleicht Zeit, auch andere innere Mitspieler willkommen zu heißen. Vielleicht einen, der sich Ratlosigkeit in manchen Situationen eingesteht und andere um Hilfe bittet.
Von „verheerend“ bis „ist ja zum Piepen“
Sie mischen sich ein und haben das Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ mit verfasst. Wie ist es um Kommunikation in unserer Gesellschaft bestellt?
Schulz von Thun Sehr gut – sehr verheerend – sehr entwicklungsfähig, je nachdem, wohin wir schauen. Es gibt keinen generellen Trend in unserer Gesellschaft. Wir haben die Gleichzeitigkeit von sehr verschiedenen Entwicklungen. Soll ich mal ein paar Beispiele sagen?
Ja, sehr gerne…
Schulz von Thun Einerseits – offenbar vor allen Dingen in den sozialen und asozialen Netzen – gibt es eine Tendenz zur Verrohung und Verächtlichmachung. Ich selbst bin davon gar nicht betroffen, werde meist sehr respektvoll behandelt. Aber es ist unsäglich, was etwa Politiker zum Teil auszustehen haben. Eine andere Entwicklung: Eine große Achtsamkeit gegenüber möglichen Diskriminierungen. Manche Worte und Redewendungen werden geächtet, weil sie Angehörige bestimmter Gruppen herabsetzen könnten. Diese Sensibilität für nicht respektvolle und diskriminierende Redeweisen enthält den guten Impuls, alle Menschen als gleichberechtigt und gleich würdig anzusehen. Wenn allerdings mit moralischem Furor über die Einhaltung semantischer Korrektheit gewacht wird, dann entstehen neue Gräben, zum Teil geradezu Schützengräben. Ein weiterer Trend ist eine enorme Zunahme an Wertschätzung, Empathie und Würdigung und die Tendenz, das Positive zu betonen. Wenn ich jemandem eine enttäuschende Absage schicke, erhalte ich zunächst einen Dank für die schnelle Rückmeldung. Früher stand in meiner Uni-Mensa das Schild „Kasse geschlossen“. Heute steht da „Wir bedienen Sie gern an einer anderen Kasse!“ Zugenommen haben auch die Beziehungsbetonung und die persönliche Ansprache. In der S‑Bahn in Hamburg steht im Abteil nicht nur die Wagennummer angeschlagen, sondern der Satz: „Sie fahren heute mit der Wagennummer XY“ – geradezu zum Piepen! Und natürlich ist die Kommunikation emotionaler und subjektiver geworden. Reporter werden nicht nur gefragt, was sie zu berichten haben, sondern auch, „was das mit ihnen macht“.
Wie können Führungskräfte und Personalmanager positiven Einfluss auf die interne Kommunikation nehmen?
Schulz von Thun Natürlich durch ihr Sein, durch ihr Vorbild. Meinen Mentor und Professor Reinhard Tausch habe ich jahrelang als Mensch erlebt mit seiner Art, auf Menschen zuzugehen und Situationen zu gestalten. Das eigene gelebte Beispiel ist am anschaulichsten. Darüber hinaus kann und sollte ich die Art des Miteinander-Umgehens und die Art des Führens und Kooperierens zum Thema machen, in Meetings, in der Fortbildung, durch Befragungen, vielleicht auch durch formulierte Leitbilder. Also die Kultur als etwas ansehen, was der bewussten Entwicklung bedarf.
Leitbilder oder Führungsrundsätze zu formulieren, reicht nicht immer aus…
Schulz von Thun Leitbilder proklamieren wunderbare Werte, aber sie stellen sich nicht der Herausforderung, Dilemmata gerecht zu werden. Das Spielfeld Wirtschaft ist ein Feld voller Dilemmata, die Politik übrigens auch. Wir merken das aktuell deutlich und schmerzlich. Es geht immer darum, verschiedenen Werten und Prinzipien gerecht zu werden, die einander widersprechen. Offenheit ist eine wunderbare Tugend, aber Diskretion ist auch eine beachtliche Tugend, und sich zwischen Offenheit und Diskretion stimmig und situationsgerecht hindurchzunavigieren, da beginnt erst die Kunst. Anfang der 70er‑Jahre haben wir uns die Köpfe eingeschlagen mit den Führungskräften der BP zu der Frage: Soll man ehrlich sein – was wir fanden –, oder soll man höflich sein miteinander? Dieses Entweder- oder-Denken war falsch. Es kommt darauf an, Höflichkeit und Ehrlichkeit zusammenzuführen. Authentizität ist etwas Wunderbares, aber Sensibilität und Diplomatie auch. Es kommt darauf an, ein solches Spannungsfeld auszuhalten und dann eine integrale Lösung zu finden, die sowohl Authentizität als auch Diplomatie gewährleistet. Das war für mich und meine Kommunikationsentwicklung eine sehr, sehr wichtige Entdeckung.
Herr Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führten Ralf Steuer und Rainer Spies.