Zeit der klugen Kompromisse

Interview mit Inken Gallner, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts

Trotz Pandemie und im Zuge des Umbaus der Wirtschaft sind Kündigungswellen ausgeblieben, konstatiert Inken Gallner, die seit Ende Januar 2022 Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt ist. Besondere Aufmerksamkeit müsse dem Thema Qualifizierung geschenkt werden, gesetzliche Regelungen seien dafür nicht unbedingt notwendig. Gallner kann nachvollziehen, dass sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mehr Möglichkeiten für Handlungsweisen online wünschen, insbesondere bei Betriebsversammlungen. Einen Bedeutungsverlust der hiesigen Arbeitsgerichtsbarkeit sieht sie trotz eines stark durch EU Recht überformten deutschen Arbeitsrechts nicht. 

Inken Gallner, 58, wurde am 24. Januar 2022 zur Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ernannt. Frühere Stationen waren die Landesvertretung Baden-Württembergs in Brüssel, das Staatsministerium Baden-Württemberg und das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg. 2007 wurde Gallner zur Richterin am BAG ernannt und dem Neunten Senat zugewiesen. Ab Mitte 2014 leitete sie zwei Jahre lang als Ministerialdirektorin das Justizministerium Baden-Württemberg, anschließend kehrte sie an das BAG zurück. Im Oktober 2017 wurde Gallner zur Vorsitzenden Richterin ernannt und dem Zehnten Senat als Vorsitzende zugewiesen. Zum 25. Januar 2022 hat sie den Vorsitz des Ersten Senats übernommen. Hier ist sie unter anderem zuständig für das Arbeitskampfrecht, das als besonders wenig reguliert gilt.

Frau Gallner, Ihrer Ernennung Anfang 2022 gehen zwei Jahre Pandemie voraus. An den Arbeitsgerichten ist von Corona wenig zu spüren, viel geklagt wird nicht. Wie erklären Sie sich das?
Inken Gallner Wir haben mit deutlich mehr Fällen während der Covid 19-Pandemie gerechnet. Das BAG hat in diesem Bereich zwar einige Entscheidungen getroffen, das sind aber eher Einzelfälle. Ich nenne zum Beispiel den nicht gegebenen Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung bei Betriebsschließungen wegen eines Corona-Lockdowns und die Pflicht, während der Arbeit eine Maske zu tragen. Größere Breitenwirkung hatte der für die Zeit der Kurzarbeit gekürzte Urlaubsanspruch. Was nicht eingetreten ist, sind viele Kündigungen, es kam nicht zu größeren Kündigungswellen. Das führe ich vor allem auf das Kurzarbeitergeld und die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstige demografische Situation zurück: den Fachkräftemangel. Homeoffice-Regelungen wurden aus meiner Sicht pragmatisch getroffen beziehungsweise von beiden Seiten in den Betrieben ausgehandelt. Diese klugen Kompromisse mussten nicht vor Gericht gebracht werden.

Ab März 2022 gilt die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Wird diese die Arbeitsgerichte mehr beschäftigen?
Gallner Nach meinen Informationen beschäftigt auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht die Arbeitsgerichte nicht oder jedenfalls nicht in großem Ausmaß. Offenbar akzeptieren die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sie. Wir alle haben während der Covid 19-Pandemie in rasantem Tempo gelernt, wie wichtig gesundheitsschützende Maßnahmen am Arbeitsplatz sind.

Qualifizierungsansprüche ohne Gesetz regeln

Sie haben in einem Interview davon gesprochen, dass beim Umbau der Wirtschaft Kündigungswellen zu befürchten sind. Gibt es aus Ihrer Sicht denn dafür Anzeichen? 
Gallner Nein, ich befürchte im Augenblick keine Kündigungswellen. Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie verlangen jedoch aus meiner Sicht, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihren Kompetenzen verändern, sich qualifizieren. Das gilt besonders für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Bereichen arbeiten, die es künftig so nicht mehr geben wird. Gelingt uns dieser Veränderungsprozess, wird es auch nicht zu Kündigungswellen kommen.

In einem Interview sprechen Sie an, die Ansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Qualifizierung und Weiterbildung auszuweiten. Seitens der DGFP haben wir den Eindruck, dass die Arbeitsgeber viel dafür tun, damit ihre Beschäftigten neue und zusätzliche Kompetenzen erwerben...
Gallner Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, hier eine Regulierung voranzutreiben. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind sich dessen bewusst, dass wir uns in einem epochalen Veränderungsprozess befinden. Aber es wird auch Branchen geben, die – anders als zum Beispiel die Metallindustrie oder die Automobilbranche – aus eigenem Antrieb nicht so weit kommen werden. Hier muss dann über Ansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachgedacht werden, insbesondere in Tarifverträgen. Tarifvertragliche Ansprüche sind in diesem Bereich aus meiner Sicht vorzugswürdig gegenüber einem Gesetz.

Der DGB fordert, dies im Rahmen des gerade erst reformierten Betriebsverfassungsgesetzes zu tun. Auch die Arbeitgeber sind mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz nicht zufrieden, sie hätten sich beispielsweise gewünscht, dass Online-Betriebsversammlungen und Online-Betriebsratswahlen ermöglicht worden wären. Sie haben einmal gesagt, es sei gar nicht so einfach, ein „gutes Gesetz“ zu machen. Was ist ein gutes Gesetz?
Gallner Dass weder die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch die Gewerkschaften mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz zufrieden sind, zeigt dessen ausgeprägten Kompromisscharakter. Ich habe mit einem „guten Gesetz“ ein handwerklich gutes Gesetz gemeint. Es ist sehr schwierig, eine Vielzahl konkreter, nicht vorhersehbarer Fälle abstrakt abzubilden. Bei neuen Regelungsbereichen muss deshalb manchmal kurz nach Inkrafttreten der Urfassung nachgebessert werden. Das Arbeitsrecht wird nie ohne unbestimmte Rechtsbegriffe auskommen, um möglichst viele Einzelfälle abbilden zu können. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind „Segen und Fluch“ zugleich, aber ohne sie werden wir die Komplexität der Sachverhalte nie völlig abgebildet bekommen. 

Vollelektronische Akte in der Arbeitsgerichtsbarkeit 

Die Sozialwahlen werden 2023 online durchgeführt. Spricht aus Ihrer Sicht etwas dagegen, auch Betriebsratswahlen online durchzuführen?
Gallner Wir halten bei politischen Wahlen aus Gründen der Rechtssicherheit bislang an der persönlichen Wahl in der Wahlkabine oder per Briefwahl fest. Ich kann allerdings verstehen, dass sich viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Online-Betriebsratswahlen aus praktischen Gründen gewünscht hätten. Entscheidend ist, dass sie rechtssicher gestaltet werden können. Darüber muss einfach noch ein bisschen nachgedacht werden, schließlich ist der Betriebsrat als Mitbestimmungsgremium in den Betrieben außerordentlich wichtig, ohne damit die Sozialwahlen herabwürdigen zu wollen. Bei Betriebsversammlungen halte ich es für weniger problematisch, sie online durchzuführen, weil hier ja keine Beschlüsse getroffen werden – jedenfalls nicht in dem Maß, wie es bei Betriebsratssitzungen der Fall ist. Die Betriebsversammlung kann dem Betriebsrat nur Anträge unterbreiten und zu seinen Beschlüssen Stellung nehmen.

Wie steht es um die Digitalisierung der Arbeitsgerichtsbarkeit? 
Gallner Am weitesten sind Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Hier wird schon mit vollelektronischer Aktenführung in allen Bereichen der Arbeitsgerichtsbarkeit gearbeitet. Beim BAG werden am Ende des Jahres alle zehn Senate vollelektronisch arbeiten. Der Vorteil ist, dass dann mehrere Menschen an der Akte arbeiten können. Die Akte kann mithilfe von Steuerungsmitteln auch besser strukturiert werden. Aber es geht vor allem um den Vorteil, von überall aus auf die Akte zugreifen und gleichzeitig an ihr arbeiten zu können. Eine qualitative Verbesserung der Abstimmungs- und Beratungsprozesse erwarte ich davon nicht, die vollelektronische Akte ist ein rein technisches Hilfsmittel. 

Lassen Sie uns noch einmal auf die Komplexität von Arbeitsgesetzen zurückkommen. Als technisch sehr komplex gilt das Entgelttransparenzgesetz. Die Arbeitsgerichte vor Ort sind erleichtert darüber, dass sie sich in geringerem Umfang als befürchtet damit befassen müssen. Wie sehen Sie das Entgelttransparenzgesetz? 
Gallner Das Gesetz ist auch aus meiner Sicht rechtstechnisch komplex, ihm liegt jedoch eine große tatsächliche Fragestellung beziehungsweise ein großes Problem zugrunde: dass Frauen auf vergleichbaren Positionen häufig noch immer schlechter bezahlt werden als Männer. Das versucht das Entgelttransparenzgesetz durch einen Auskunftsanspruch zu lösen. Allerdings ist das Problem ein so altes und ein so schwieriges, dass hier nicht allein mit dem Entgelttransparenzgesetz gearbeitet werden kann. Wichtig ist vor allem auch die in den Verträgen der Europäischen Union geregelte Entgeltgleichheit von Männern und Frauen.

Hätte man von Anfang an ein anderes Gesetz machen müssen, damit Frauen wirksam einfordern und auch einklagen können, so bezahlt zu werden wie Männer auf vergleichbaren Positionen?
Gallner Als Arbeitsrichterin steht es mir nicht zu, das zu bewerten. Mit dem Entgelttransparenzgesetz ist ein Gesetz gemacht worden, das ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entgeltgleichheit von Männern und Frauen ist. 

Bei dem das BAG eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Das Gericht hat im Unterschied zur Vorinstanz entschieden (8 AZR 488/19), dass ein geringeres Entgelt als das vom Arbeitgeber mitgeteilte Vergleichsentgelt die Vermutung begründet, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vorliegt...
Gallner Ich verstehe diese Vermutung, die der Senat angenommen hat, als Rechtsanwendung. Sie ist ganz und gar Auslegung des Entgelttransparenzgesetzes und erfolgt hart am Gesetzeswortlaut, am Gesetzeszusammenhang und am Gesetzeszweck.

Arbeitsrecht auslegen und fortbilden 

Aufgabe des BAG sei es, das Arbeitsrecht auszugestalten und fortzuentwickeln, haben Sie im Februar dieses Jahres in den Badischen Neuesten Nachrichten gesagt. Ist das nicht eigentlich Aufgabe des Gesetzgebers? Schließlich spiegeln Gesetze immer auch Interessen, Werte und Mehrheitsverhältnisse wider.
Gallner Dann hätte ich mich missverständlich ausgedrückt. Ich dachte auch, ich hätte den Begriff Ausgestaltung nicht verwandt, jedenfalls meinte ich den Begriff der Auslegung. Aufgabe der Arbeitsgerichtsbarkeit ist es, das Arbeitsrecht, vor allem die unbestimmten Rechtsbegriffe, auszulegen und – wenn nötig – fortzubilden. Auslegung und Rechtsfortbildung müssen sich selbstverständlich in den vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen halten. Häufig ist Arbeitsrecht auslegungsbedürftig, unter anderem wegen der vielen unbestimmten Rechtsbegriffe. Und wenn wir Richterinnen und Richter es nicht mit den Mitteln der einfachen Auslegung deuten können, müssen wir es nach deutscher Rechtsmethodik gegebenenfalls fortbilden. 

Was bedeutet „Arbeitsrecht fortbilden“? 
Gallner Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Recht darf nur unter engen Voraussetzungen richterlich fortgebildet werden. Sehr grob ausgedrückt: Rechtsfortbildung ist nur zulässig, wenn das geltende Gesetzesrecht lückenhaft ist. Eine solche Regelungslücke muss dem Gesetzgeber unbewusst unterlaufen sein. Richterinnen und Richter dürfen nicht ihren Willen an die Stelle des Willens des Gesetzgebers setzen, weil sie eine gesetzliche Regelung für einen rechtspolitischen Fehler und eine andere Regelung für besser halten.

Was ist dabei Ihre spezielle Rolle als Präsidentin des BAG? 
Gallner Meine Aufgabe als Vorsitzende des Ersten Senats ist es, ebenso wie die jeder anderen Richterin und jedes anderen Richters am BAG, das Arbeitsrecht auszulegen und gegebenenfalls fortzubilden. In meiner Brust wohnen seit vielen Jahren zwei Seelen, die der Richterin und die der Verwaltenden: Ich bin als Richterin spruchrichterlich tätig. Seit Anfang 2022 bin ich außerdem Präsidentin und stehe an der Spitze der Verwaltung des BAG. Als Richterin habe ich jedoch keine anderen Aufgaben als jeder andere Richter und jede andere Richterin des Kollegiums im BAG auch.

Das BAG hat zum Arbeitnehmerstatus von Crowdworkern und zu Kurieren entschieden. Wo sehen Sie arbeitsrechtlichen Handlungsbedarf des Gesetzgebers?
Gallner Es wird Sie vielleicht verwundern, aber ich sehe gar nicht so viel Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers. Die Plattformarbeit ist sicher ein Bereich, wo gesetzgeberisches Handeln sinnvoll oder jedenfalls wünschenswert wäre, allerdings vor allem im Bereich der Sozialversicherung. 

„Kluge Zurückhaltung“ des Gesetzgebers

Gleichwohl nimmt die Regulierungsdichte im Arbeitsrecht zu, im Betriebsrätemodernisierungsgesetz geht es erstmals um KI, aktuell ist das Nachweisgesetz erneuert worden, sehr zum Leidwesen der Unternehmen, ein Whistleblower-Gesetz wird kommen und so weiter. Was wären Alternativen zur Regulierung? 
Gallner Ich habe den Eindruck, dass gerade das Betriebsverfassungsrecht nicht systematisch überreguliert ist. Die Novellen waren bisher trotz der massiv fortschreitenden technologischen Entwicklung nicht besonders zahlreich. Sobald jedoch die europäischen Rechtsgeber, also Rat und Parlament, eine Richtlinie machen, die sich an die Mitgliedstaaten richtet, muss das deutsche Recht reguliert werden, muss ein deutsches Gesetz gemacht oder angepasst werden. Es sei denn, es gibt schon ein nationales Gesetz, das ausreicht, um die Richtlinie umzusetzen. Ich habe aber auch kluge Zurückhaltung des Gesetzgebers wahrgenommen, obwohl sich viele eine Regulierung gewünscht hätten.

Wo zum Beispiel? 
Gallner Etwa im Massenentlassungsrecht. Die Paragrafen 17, 18 des Kündigungsschutzgesetzes dürften nicht in allen Teilen der Massenentlassungsrichtlinie der EU entsprechen. Trotzdem ist der Gesetzgeber bisher nicht tätig geworden, sondern vertraut auf unionrechtskonforme Auslegung durch die Rechtsprechung. Ähnliches verzeichne ich im Urlaubsrecht. Das Bundesurlaubsgesetz ist nicht geändert worden, obwohl der Europäische Gerichtshof eine massive Rechtsprechungstätigkeit im Urlaubsrecht entfaltet hat. Der Neunte Senat hat viele Lösungen auf der Grundlage des bestehenden Bundesurlaubsgesetzes gefunden. 

Bekennende Unionsrechtlerin 

Sie haben es angesprochen: Das in Deutschland geltende Arbeitsrecht wird längst nicht mehr nur hierzulande gemacht, das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung in der Sache „CCOO“ zeigt das eindrücklich. Können Sie verstehen, dass Arbeitgeber, die in Deutschland auf Vertrauensarbeitszeit setzen, was viele Beschäftigte ausdrücklich begrüßen, sich ausgebremst sehen, weil in Spanien das Thema Arbeitszeiterfassung eine große Rolle spielt?
Gallner Ich kann gut verstehen, dass die Arbeitszeiterfassung ein Streitthema oder sogar ein Kampfthema ist. Aber Arbeitszeitfragen sind Gesundheitsschutzfragen; die Begrenzung der Arbeitszeit und Ruhezeiten dienen dazu, sich selbst und andere nicht in gesundheitsschädlicher Weise zu beanspruchen. Natürlich ist die Lage in Spanien eine andere als in Deutschland. Aber die Rechtsgeber in der EU haben sich dafür entschieden, die Arbeitszeitrichtlinie so auszugestalten, dass sie das Arbeitszeitrecht in allen 27 Mitgliedstaaten harmonisiert, also unionsweit gleiche Standards gelten. Natürlich ist es für „Dienste gehobener Art“ sehr viel weniger leicht zu akzeptieren, dass die Arbeitszeit begrenzt wird und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht selbst einfach ohne Weiteres darüber hinausgehen dürfen. 

Sie sind nach eigenen Worten „bekennende Unionsrechtlerin“. Was heißt das?
Gallner Deutsche Richterinnen und Richter müssen immer auch Unionsrichterinnen und  richter sein. Es geht um die Fragen, ob Unionsrecht unmittelbar wirkt, also primäres Recht ist, und wann EU-Richtlinienrecht in das deutsche Recht eingepasst werden muss, also das deutsche Recht unionsrechtskonform ausgelegt oder fortgebildet werden muss. Nationales Recht, das unmittelbar wirkendem Unionsrecht zuwiderläuft, bleibt sogar unangewendet. Der EuGH und die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit wirken bei der Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts zusammen, soweit das deutsche Arbeitsrecht unionsrechtlich überformt ist. Umzusetzen waren beispielsweise die Antidiskriminierungsrichtlinien, die sehr weitgehend in das deutsche Recht hineinwirken. 

Sie legen am BAG das deutsche Arbeitsrecht aus und bilden es fort. Fühlen Sie sich dabei nicht eingeschränkt, wenn zunehmend im Rahmen von Vorlagebeschlüssen das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem EuGH mit der Frage vorgelegt werden muss, ob die nationale Rechtslage mit europäischem Recht übereinstimmt?
Gallner Wenn es noch keine Antworten des EuGH gibt, ist das BAG als oberster Gerichtshof des Bundes verpflichtet, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Die Arbeitsgerichte der ersten und zweiten Instanz können dem EuGH vorlegen, müssen es aber nicht. Das ist kein Bedeutungsverlust, sondern wir sind eben alle Unionsrichterinnen und Unionsrichter. Das ist einfach eine Aufgabenverteilung – nicht mehr und nicht weniger. Wir als Arbeitsrichterinnen und  richter sind daran verhältnismäßig stark gewöhnt, weil das deutsche Arbeitsrecht, in Teilen jedenfalls, schon längere Zeit unionsrechtlich überformt ist. 

Der EuGH verhilft insbesondere dem Antidiskriminierungsrecht effektiv zur Wirksamkeit. Kann generell gesagt werden, dass von den an der Rechtsetzung beteiligten Institutionen der EU eine Verschärfung des Arbeitsrechts herrührt? 
Gallner Das liegt in der Natur der Sache, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die schwächeren Partner und Partnerinnen in einer Arbeitsbeziehung sind. Arbeitsrecht ist weitgehend Arbeitnehmerschutzrecht, sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht. Gerne will ich aber einräumen, dass der historische Wille der Rechtsgeber auf europäischer Ebene nicht ganz so gut nachvollzogen werden kann wie bei Gesetzen hierzulande, die Gesetzesbegründungen haben. Beim Antidiskriminierungsrecht kommt hinzu, dass es für uns Deutsche, die dem kontinentalen Rechtskreis angehören, vor Inkrafttreten des AGG ein wenig unvertraut und sogar fremd war. 

Kritischer Blick auf die Vergangenheit

Am BAG wird ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Bundesarbeitsgerichts seit seiner Errichtung im Jahr 1954 mit Blick auf mögliche personelle und inhaltliche Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführt. Mögen Sie uns dazu noch etwas sagen? 
Gallner Die erste Stufe des Projekts besteht aus einer Kollektivbiografie der frühen Richterinnen und Richter des Bundesarbeitsgerichts der Geburtsjahrgänge bis 1926. Dabei wird von den Wissenschaftlern untersucht, ob schwere Belastungen gefunden werden, weniger schwere oder gar keine. Im zweiten Teil des Projekts geht es darum zu untersuchen, ob das nationalsozialistische Gedankengut Einfluss auf die Rechtsprechung der frühen Jahre des Bundesarbeitsgerichts hatte. Untersucht wird auch, ob bestimmte Begriffe aus dem Nationalsozialismus, wie etwa der der „Betriebsgemeinschaft“, in die frühe Rechtsprechung eingegangen sind. Damit will ich allerdings nicht ausschließen, dass der Begriff der „Betriebsgemeinschaft“ älter ist als der Nationalsozialismus. Das herauszufinden, ist Aufgabe der Wissenschaftler.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Rainer Spies.

Das Interview erschien zuerst in unserem Fachmagazin PERSONALFÜHRUNG 10/2022.
Auf Facebook teilen Auf Twitter teilen Auf Xing teilen RSS-Feed abonnieren E-Mail Telefon