„Kontrollieren? Das ist der falsche Ansatz“

Interview mit Oliver Leick, 3M-Personalgeschäftsführer

Beim Technologieunternehmen 3M können die Büroangestellten zwischen drei Arbeitsmodellen wählen. „Work Your Way“ heißt das Konzept – es soll eine Kultur des Vertrauens und der Eigeninitiative begründen. Personalgeschäftsführer Oliver Leick lässt sich auch bei anderen Themen der Organisationsentwicklung und des HR-Tagesgeschäfts auf Experimente ein.

Oliver Leick ist seit 2018 Personalgeschäftsführer 3M. Der Düsseldorfer schloss in seiner Heimatstadt die Hochschule mit dem Betriebswirtsdiplom ab. Seinen Studienschwerpunkt Personal pflegte der heute 55 Jährige im Technikunternehmen Epson sowie beim Schädlingsbekämpfer Rentokil Initial und im Textilunternehmen Falke – frühzeitig als Kopf für internationale HR-Arbeit.

Herr Leick, Sie rekrutieren international. Gibt es noch eine Standortpflege, wenn man Leute vom Auszubildenden bis zum Manager in aller Herren Länder sucht?
Oliver Leick Die Verantwortung von Neuss aus umfasst Benelux, Österreich, die Schweiz und Deutschland. Wir haben die Integration der Länder so weit vorangetrieben, dass es in allen Ländern Positionen gibt, die zum Teil auch übergreifend für die komplette Region arbeiten. Das ist der eine Punkt. Doch für bestimmte Funktionen suchen wir auch noch in Fachmedien wie dem Ärzteblatt. So brauchen wir KI-Spezialisten mit Kenntnissen im Medizinsektor für Berlin. Wir nutzen im Recruiting-Prozess ein Tool, das uns nach Eingabe einer Position mit Skills und Ort Informationen darüber gibt, mit welchen Mitteln die Stelle relativ schnell besetzt werden kann. Das geht bis zu Firmennamen fürs Active Sourcing. Mit unserer Mediaagentur wählen wir dann die Medien und Plattformen aus.

Das klingt sehr wirtschaftlich.
Leick So haben wir mit einem Klick eine Einschätzung über den aktuellen Markt.

Sind Sie so von 3M bei Falke im Sauerland gefunden worden?
Leick Nein, das ist eine ganz persönliche Story. Meine Frau hatte 16 Jahre bei 3M gearbeitet. Sie wusste, dass ein Personaler gesucht wird. Ich wollte nach vier Jahren Pendeln wieder in den Raum Neuss – und habe vor jetzt gut vier Jahren hier angefangen.

Auf vielen Wegen rekrutieren

Ist 3M in Schulen aktiv? 
Leick Wir gehen vom Gießkannenprinzip lokaler Schulkooperationen ab und setzen gerade eine Initiative mit dem Start-up Minty Education auf. Wir tragen Experimentierkästen in Schulen, Mitarbeiter arrangieren Workshops. Wir wollen das Thema MINT nach vorne treiben. Wir gehen auf alle Schüler zu, aber besonders stark auf Schülerinnen. 

Tragen Sie die Experimentierkästen auch in Hauptschulen?
Leick Es gibt Standorte, an denen wir gut an eine Hauptschule gehen können. Bei komplexeren Werken kontakten wir dann eher Realschulen oder Gymnasien. Unsere Leute kennen die Schulen und die unterschiedlichen Qualifikationen. Wir haben gerade einen Piloten gestartet.

Wächst der Anteil des dualen Studiums in der Ausbildung?
Leick Wir müssen uns jedes Jahr anschauen, ob wir mit den Berufsbildern, die wir anbieten, die Fachleute ausbilden, die wir in ein paar Jahren brauchen. Deshalb haben wir ein duales Studium im Bereich Gesundheitsmanagement neu eingeführt. In der dualen Ausbildung haben wir gerade noch offene Ausbildungsstellen im Logistikbereich. Azubi-Bewerber kommen nicht mehr so zahlreich wie früher zu unseren Veranstaltungen vor Ort. Wir haben jetzt an zwei, drei virtuellen Messen teilgenommen, gehen verstärkt in die Hochschulen, bieten Praktika an, holen Werkstudierende rein.

Haben Sie spezielle Programme zur Rekrutierung und Integration der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine? 
Leick Nicht auf breiter Front. Mit unserer Ausbildungsleiterin habe ich Anfang des Sommers darüber gesprochen, was wir möglich machen können. Das Thema Geflüchtete begleitet uns nun schon einige Jahre.

Sie nutzen für die geflüchteten Ukrainer das, was Sie schon seit 2015 für Neuankömmlinge eingesetzt haben? 
Leick Ganz genau. Es geht immer in erster Linie um Sprache. Es muss ein Mindestmaß da sein, etwa um die Sicherheitsregeln zu verstehen. Anlerntechniken im Werk und für Jüngere vielleicht eine Ausbildung, das können wir selbst leisten. Da aus der Ukraine vor allem Frauen und Kinder einreisen, ist die Familienbetreuung eine wichtige Frage, wenn die Frauen auf den Arbeitsmarkt wollen.

In der Ukraine haben Sie nur einen Vertrieb, aber in Russland stehen zwei Werke. Was passiert dort mit den Beschäftigten?
Leick In der Ukraine haben wir rund 40 Mitarbeiter, die zum großen Teil zumindest temporär das Land verlassen haben. Einige sind bei polnischen Kollegen untergekommen. Das haben wir unterstützt, auch mit Spenden. Die Geschäftsbeziehungen mit Russland sind aktuell gekappt. Die rund 350 Mitarbeitenden können nichts tun, werden aber noch voll bezahlt. Das klärt die Europazentrale direkt mit Russland.

Anders als Belgien, wo Sie im März 2022 ein Chemiewerk aus Umweltschutzgründen stilllegen mussten.
Leick Wir haben nur Teile stillgelegt. In der Zwischenzeit haben wir die Mitarbeiter ganz normal weiterbeschäftigt, mit Instandhaltungsmaßnahmen. Jetzt produzieren wir wieder.

Das war jetzt ein Ausflug in unangenehmere HR-Themen… 
Leick Mit denen müssen wir uns auch beschäftigen.

Wie ermutigen Sie Beschäftigte, die gerade in ihren Job starten? 
Leick In ihrem Bereich werden sie integriert, lernen die Unternehmenskultur kennen. Wir überlegen kontinuierlich, wie wir virtuelles Onboarding so effektiv hinkriegen wie physisches. Wenn wir jetzt zum Teil full remote einstellen, etwa in Funktionen, die mehr international und global angelegt sind, müssen wir das Onboarding sicherstellen. Wir überarbeiten gerade unser Programm. Unsere Ausbildungsabteilung stößt immer wieder Dinge an wie einen Azubi-Floor in der zweiten Etage, als wir feststellten, dass ein paar Azubis, darunter auch ein Flüchtling aus der ersten Phase 2015, nicht zurechtkamen, weil sie zu Hause sitzen mussten. Egal in  er Abteilung sie arbeiten, die Azubis können hierherkommen, mit entsprechendem Abstand hatten sie während Corona sozialen Kontakt.

Können Sie die 3M-Kultur beeinflussen? Oder setzen Sie nur US-Vorgaben um? 
Leick Wir setzen eigenständig lokale Themen auf. Während Corona haben wir ein Resilienz-Coach-Team aus 14 Kolleginnen und Kollegen aufgebaut, die ansprechbar waren. Diese Coaching-Erfahrenen haben wir innerhalb von zwei Tagen in einem virtuellen Training mit einem Spezialisten qualifiziert. Sie sind ansprechbar, gehen aber auch aktiv in die Bereiche und trainieren – auch Führungskräfte. Auf der anderen Seite sind wir ein globaler Konzern. Unser 3M-Lernsystem ist eines der größten Lernmanagementsysteme weltweit und sehr effektiv. Wir arbeiten mit Work Data, die viele Programmierung dahinter beeinflussen wir nicht. An anderer Stelle wiederum sind wir stark lokal in internationale Themen eingebunden, weil wir hier in Europa anders arbeiten als in Asien und Amerika. In ein internationales Projekt über mehr Flexibilität im Produktionsbereich bringen wir uns ein – und haben den Benefit für die über 3 000 Beschäftigten, die in unseren Werken arbeiten. In Polen kann sich zum Beispiel seit einiger Zeit jeder der 2 000 Mitarbeiter in der Produktion zwei Wochenenden im Jahr blockieren. Die sind heilig, da greifen wir auch bei Schichtplanwechsel nicht ein. Noch ist es eine Idee, aber wir diskutieren, älteren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen anzubieten, vom Dreischicht- auf Zweischichtbetrieb zu wechseln. Sie müssten dann nicht mehr in die Nachtschicht, wenn sie es nicht wollen.

Zeitliche und örtliche Flexibilität

Größere Veränderungen bieten Sie Büroangestellten mit „Work Your Way“ an, der Wahl zwischen drei Arbeitsmodellen. Wie viele der rund 3 000 deutschen Mitarbeitenden haben sich schon entschieden? 
Leick 94, 95 Prozent.

Welches Modell ist der Renner?
Leick Mit 53 Prozent liegt das hybride Modell weit vorn, in dem die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zwischen einem Tag und vier Tagen pro Woche im Homeoffice arbeiten können. Komplett remote wollen 16 Prozent arbeiten. Wir liegen also jetzt bei knapp 70 Prozent, die wirklich variabel mobil arbeiten. 30 Prozent möchten hauptsächlich vor Ort sein. Auch wer sich für das Modell „Mainly On Site“ entscheidet, kann zwischendurch mal einen Tag im Monat zu Hause arbeiten. Aber eben nicht mit der Regelmäßigkeit wie bei dem hybriden Modell. Freilich müssen die Arbeitsmodelle zu Job und Team in der Verwaltung passen.

Liegen bestimmte Berufsgruppen vorn bei der Wahl der hybriden Modelle?
Leick Das geht einmal quer durch die Bank, vom Sekretariat bis zum Management. Entscheidend ist, was der Job ermöglicht.

Und was machen die HRler? 
Leick Auch im HR hält eine Mischung den operativen Betrieb aufrecht. Wir kriegen noch Post. Wir müssen noch Unterschriften leisten. Jetzt nach dem neuen Nachweisgesetz vermehrt. Wir sind 60 Personalmitarbeiter in 14 Werken und Office-Standorten in Deutschland, den Niederlanden, in Belgien, Österreich, in der Schweiz. Da läuft ohnehin vieles über digitale Kanäle. Trotzdem wollen wir einen Rhythmus hinkriegen, damit wir uns ab und an hier vor Ort treffen. Für den Herbst plane ich eine Rundtour zu den Südstandorten, in die Schweiz, und dann fahre ich über die Werke zurück. Diesen Austausch finde ich wichtig neben den neuen virtuellen Formaten wie dem HR-Quarterly, wo wir alle Mitarbeiter zusammenbringen und darüber informieren, was in den Bereichen passiert und wie die Company finanziell dasteht. Wir stärken die virtuellen Mechanismen mit Austauschfrageformaten und Breakout Groups, die an Themen arbeiten und reporten, wie wir uns weiterentwickeln können. Ich habe gedacht, wenn Corona vorbei ist, rennen uns alle wieder die Bude ein. Das tun sie nicht. Die Digitalisierung geht weiter. Und wir tun gut daran, dass wir uns schon jetzt mit Themen wie Work Your Way stark darauf vorbereiten.

Werden künftig kreative Prozesse am Standort und Routinearbeiten remote erledigt? 
Leick Das ist zu krass formuliert. Corona hat uns gelehrt, dass auch Kreativität virtuell möglich ist. Zufällige Treffen am Kaffeeautomat sind das eine, aber im Endeffekt war es schon vor Corona so, dass sich die rund 400 Mitarbeitenden aus dem Forschungslabor Kontakte suchten zu Kolleginnen und Kollegen im Vertrieb und im Marketing. Jetzt hat man gelernt, gemeinsam virtuell kreativ zu arbeiten, unterstützt von Agile Coaches und einer Gruppe aus dem Mitarbeiterkreis heraus, die sich um das Funktionieren der virtuellen Zusammenarbeit kümmert. Manche sagen, sie haben einen viel intensiveren Kontakt mit ihren Ansprechpartnern, weil alle am Laptop sitzen und sie schnell mal chatten können.

So weit die Psyche. Wie steht es um Arbeitssicherheit und Ergonomie? 
Leick Wir haben ein Tool entwickelt, um zu sehen, wie die Mitarbeiter zu Hause ausgestattet sind. Die Fragen sind sehr detailliert. Die Antworten schaut sich der EHS-Verantwortliche für den Standort an. Wenn die Verhältnisse nicht gegeben sind, erhält der Vorgesetzte eine Information und spricht mit dem Mitarbeiter. Das kann dazu führen, dass der Mitarbeiter komplett ins Büro kommen muss oder vielleicht nur einen Tag zu Hause arbeiten kann, weil einen Tag pro Woche am Küchentisch zu sitzen in Ordnung ist, aber nicht die ganze Woche.

Sind die drei Modelle nur ein Übergang zu Remote total?
Leick Full Remote kann ich mir auch langfristig nicht vorstellen. Es wird gerade viel experimentiert. Denn jeder kann in Absprache mit dem Vorgesetzten das Modell selbst im System ändern. Ich denke, dass mittelfristig fast bis zu 100 Prozent der Mitarbeitenden, die wählen können, in den hybriden Bereich gehen. Wenn es ideal läuft, braucht es noch vier Jahre, bis unser neues Gebäude steht. Wir haben also etwas Zeit für den Innenausbau. Das Office, da bin ich sicher, wird weniger am Einzelarbeitsplatz orientiert und eher Begegnungsstätte sein, zum Teil für kreative Prozesse, zum Teil um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten.

Überholt sich die Regel, nach der ich 15 Prozent selbstbestimmt kreativ arbeiten darf, durch Work Your Way?
Leick Überhaupt nicht. Wo ich meinen Job mache und zu welcher Zeit, spielt keine Rolle dafür, dass ich mir eine gewisse Zeit einräumen kann, um Ideen zu entwickeln. Entweder man bringt das Team zusammen oder verbringt die Stunden allein, ob zu Hause oder in der Firma. Entwickler nutzen das stark. So haben wir eine Augmented-Reality-Kunden-Begegnungsplattform entwickelt, die jetzt als globales Projekt nach vorne getrieben wird.

Wie kontrollieren Sie, was rausgekommen ist, wenn sich Mitarbeitende ihre 15 Prozent genommen haben?
Leick Kontrollieren? Das ist der falsche Ansatz. Interessante Ideen transportieren die Mitarbeiter zum Vorgesetzten, zu Kollegen und in die Bereiche. Man guckt gemeinsam, wo passt es am besten hin? Und dann wird präsentiert – und darüber entschieden. Wir machen ungefähr ein Drittel unseres Umsatzes mit Produkten, die nicht älter als fünf Jahre sind. Deswegen müssen wir die Innovationsbereitschaft am Laufen halten. Wir vertrauen unseren Mitarbeitern. Und jetzt überlegen wir, wie wir das Modell in die digitale Welt heben.

Mischung aus virtuellem und realem Arbeiten 

Wer remote führt, muss seine Führungsphilosophie ändern. Wie überzeugen Sie die Führungskräfte davon, dass die konkrete Arbeit gelingen kann? 
Leick Es gab natürlich speziell am Anfang einige skeptische Führungskräfte. Aber wir haben den Prozess begleitet. Zu den Quartalsmeetings mit den 150 wichtigsten Führungskräften wurden externe Redner eingeladen, die deutlich machten, dass die neue Realität schon da ist. Wir haben diskutiert, in ganz harten Fällen auch in Einzelgesprächen. Jetzt arbeiten wir auf unserer neuen Lernplattform weiter. Bestimmte Learning Tracks sind verpflichtend, auch für Führungskräfte, manche zielen dediziert auf Vorgesetzte ab. Wir bespielen dieses Unternehmenskulturthema lokal und es gibt globale Trainings. 

Die Anforderung, gleichzeitig das operative Management sicherzustellen und zukunftsorientiert kreativ zu sein, trifft Führungskräfte ganz direkt.
Leick Standardisierte Prozesse in der Produktion und in der Verwaltung, die optimiert werden, und die Transformation in die digitale Welt stehen nebeneinander. Der Kreativprozess ist eines der schwierigsten Themen. Aber für mich als HRler gehört es zur Kultur, dass ich mich damit beschäftigen will. Was sinnvoll ist, wollen wir auf die digitale Ebene heben. Physische Meetings wird es weiterhin geben. Die Mischung aus virtuellem und realem Arbeiten ist unumkehrbar.

Bleibt das auch so, wenn Mitarbeitende Standorte oder Bereiche wechseln wollen? Jetzt, wo der Fachkräftemarkt enger wird? 
Leick Durchlässigkeit fördern wir. Darum sind so viele Leute lange bei uns. Wir stellen rund 55 000 verschiedene Produkte in vier unterschiedlichen Business Groups her. Produktionsmitarbeiter wechseln seltener, sie sind lokal oft sehr verbunden. Auch in den anderen Bereichen hilft es, dass die Mitarbeitenden viele Sachen remote machen können. Denn es gibt eine gewisse Umzugsmüdigkeit speziell bei den jungen Deutschen. Wir hatten bei der Suche nach Talent-Acquisition-Nachfolgern einen extremen Fall. Der Kandidat sagte, wenn ich nicht von Anfang an fünf Tage von zu Hause aus arbeiten kann, komme ich nicht. Da gab es keine Einigung. Und wenn Vorgesetzte sagen, dass sie jemanden nicht gehen lassen wollen, wird von HR-Seite vielleicht entschieden: Es ist jetzt Zeit, ihr müsst ihn oder sie freigeben für einen anderen Bereich.

Internationale Erfahrung bleibt unabdingbar

Wenn ich vom dualen Studium komme und will in Ihre Etage, muss ich dann internationale Stationen absolvieren oder kann ich remote von zu Hause aus Karriere machen?
Leick Internationale Erfahrung müssen Sie haben. Auf jeden Fall. Unsere Region umfasst schon mehrere Länder, und ich habe auch direkt mit Kolleginnen und Kollegen in den USA zu tun. Wie Sie internationale Erfahrung gewinnen, das wird vielleicht in Zukunft anders. Früher mussten Sie dafür ins Ausland gehen. Heute arbeiten ohnehin viele Mitarbeiter, auch im HR-Bereich, permanent virtuell mit Kollegen aus anderen Ländern zusammen oder stehen im globalen Kontext. Zukunftsgerichtet denke ich, einen Teil der Erfahrung kann man sich virtuell holen. Obwohl es nicht schadet, in anderen Kulturen gelebt zu haben.

Ich muss also nicht mehr in die USA, um Karriere zu machen?
Leick Es ist zwar förderlich, mal in der Zentrale gewesen zu sein, Netzwerke aufgebaut zu haben. Aber genau das, Netzwerke aufbauen, das geht mittlerweile auch virtuell.

Wird durch digitalisierte Arbeitsmodelle der Bruch zwischen Kollegen und Kolleginnen in der Verwaltung und in den Werkshallen verstärkt? 
Leick Es geht kein Weg daran vorbei, dass die Produktion laufen muss. Doch wir bieten für die Werke kleine Dinge an: Wir produzieren, wenn es geht, nicht an Brückentagen; Mehrarbeit können sich Mitarbeiter auszahlen lassen oder in Freizeit nehmen; Gleitzeitmodelle gibt es auch in der Schichtarbeit; Langzeitkonten können Produktionsmitarbeiter füllen und dann eine Auszeit nehmen.

Was macht 3M mit Qualifikationen, die künftig nicht gebraucht werden, oder mit Ungelernten? Und was mit Jobs, die durch die Transformation entfallen? 
Leick Wir arbeiten in einigen Werken mit Robotertechnik. Doch weil wir Millionen von Euro in deutsche Werke investieren, können wir mehr Leute einstellen oder eben Mitarbeiter auf andere Positionen qualifizieren. Eine Handvoll Mitarbeiter sind in andere Werke gegangen, als ihre Jobs verschwanden. Es hilft, dass fast alle bei uns eine Erstausbildung haben. Vor zwei Jahren haben wir das Beurteilungssystem „Performance Everyday“ eingeführt, mit dem jeder Vorgesetzte mit jedem Mitarbeiter Ziele vereinbart, die monatlich reviewt werden. Das brechen wir jetzt in die Produktion runter. Die Betriebsvereinbarung ist unterschrieben. Wir testen gerade, ob der Zeitraum in der Produktion auf drei Monate festgelegt wird, weil sich Vieles dort nicht so rasch verändert. 

Ist die Beurteilung an einen Bonus gekoppelt?
Leick Unser Bonussystem für die Angestellten basiert auf dem Ergebnis weltweit. Wenn die Company Geld verdient, verteilen wir das. Und wenn die Company kein Geld verdient, eben nicht. In HR ist die Basis das Gesamtergebnis der Company – und die individuelle Performance. Gesprächsergebnisse werden im System eingetragen. Wenn Manager etwas Besonderes leisten, erhalten sie über einen Akzelerator noch mal einen höheren Bonus.

Warum sind Sie bei Individualzielen geblieben, obwohl die Performance nur scheingenau abgebildet werden kann?
Leick Als Guidance für den Mitarbeiter. Am Anfang des Jahres verschriftlichen wir, wohin es gehen soll – verbunden mit der Aufforderung an den Vorgesetzten, regelmäßig mit dem Mitarbeiter ins Gespräch zu gehen und diese Orientierung zu kalibrieren. Der variable Anteil des Gehalts ist nicht riesig, bei mir variiert er zwischen fünf und 20 Prozent. Wir müssen unsere Ergebnisse liefern. Aber entscheidend ist die 3M-Firmenkultur, die mit Wertschätzung, Respekt, Eigeninitiative und Freiheit zu tun hat. Da gibt es wenig dran zu kritisieren. 

Hohe ethische Standards

Und wenn doch, gibt es Beschwerdewege für anonymes Meckern und Whistleblowing?
Leick Wir öffnen Kanäle, wenn Mitarbeiter sich beschweren wollen. Wir sind gerade wieder von Ecosphere als eine der ethischsten Firmen der Welt ausgezeichnet worden. Für unsere Region haben wir einen Compliance-Manager als Ansprechpartner und eine E Mail-Adresse, an die man sich anonym oder mit Namen wenden kann. Das geht ruckzuck bis in die USA.

Da stellt sich gleich die Frage, wie viel Empowerment ein lokaler Standort hat und wo die Zentrale im Rahmen von Governance durchgreift? 
Leick Wenn man es ganz extrem definiert, haben die Lokalen keine Möglichkeit, sich gegen Entscheidungen des Headquarters zu stellen. Es gibt globale Vorgaben und Initiativen. So haben wir das System „Everyday Wins“ eingeführt: Jeder Mitarbeiter kann einem beliebigen Kollegen, der einen guten Job gemacht hat, Punkte zukommen lassen, mit denen der sich kleine Dinge aus dem 3M-Shop bestellen darf. Die Idee ist komplett in den USA entwickelt worden. Auch der Chatbot Max auf der Karriereseite ist gerade von den USA eingeführt worden. Wir sind dafür häufig bei Arbeitsmodellen in Produktion und Technik gefragt.

Gerade da treibt ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit die Unternehmen um. Welchen Beitrag leistet 3M HR für die ESG-Richtlinien? 
Leick Governance wird weitestgehend durch den Compliance-Bereich betrieben. Wir machen Projekte zusammen, etwa zu „be respectful“ aus unserem Code of Conduct. Noch aktiver ist HR im sozialen Engagement und bei der Umwelt. Vor drei Jahren habe ich die Initiative „Care for CER“ ins Leben gerufen. CER steht für Central Europe Region und Care dafür, sich wirklich um diese Region zu kümmern. Mitarbeiter können sich in vier Bereichen engagieren: Bei Wellbeing geht es um das Thema Resilienz. 40 Resilience Allies halten das Thema in der Region am Leben. Eine Healthy-Living-Gruppe wird eine Break-Home-App einführen, mit der Mitarbeiter Sportübungen in ihren mobilen Arbeitstag einbauen können. Die andere Säule ist Work Your Way. Drittens geht es um Kommunikation in unterschiedlichen Formaten. Schließlich haben wir ESG unter dem Titel Sustainability. Wir machen Clean-ups am Rhein, legen vor dem Gebäude eine Blumenwiese für Bienen an und pflegen hinter unserem Logistikzentrum in Jüchen eine Apfelplantage. Azubis haben Vogelkästen gebaut und bemalt. Die haben wir intern für teures Geld versteigert und den Erlös dem NABU gespendet. Für Soziales stellen wir Mitarbeiter von der Arbeit frei. 24 von ihnen kümmern sich hier in Neuss als Mentoren um Flüchtlinge. Wir wollen das jetzt deutschlandweit ausrollen. Unsere dual Studierenden und Azubis haben vergangenes Jahr in Behinderteneinrichtungen geholfen. Außerdem planen wir ein 3M-Impact-Local-Programm: Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen für fünf Wochen eine NGO. Das sind auch Führungs- und Personalentwicklungsthemen. Eine Gruppe kümmert sich um den Pride Month. Wir haben das Women-Leadership-Forum und die Parental-Gruppe zur Elternzeit. All das hat extern eine große Wirkung – auf die Gesellschaft und auch auf potenzielle Bewerber.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Ralf Steuer und Ruth Lemmer.

Das Interview erschien zuerst in unserem Fachmagazin PERSONALFÜHRUNG 11/2022.

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