„Mut haben, Irrtümer einzugestehen“

Daniel Terzenbach, Vorstand Regionen der Bundesagentur für Arbeit, über Fehlerkultur und Perspektiven für den Jobmarkt

Auf dem Weg von der Bundesanstalt zur Bundesagentur ist die deutsche Arbeitsverwaltung schneller, flexibler und transparenter geworden. Das Wort „Behörde“ hört Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach deshalb nicht gern. Im Herausgeber-Interview erklärt er, wie Purpose Bewerbungen anzieht, Unternehmen von Vielfalt profitieren und was man als Führungskraft vom Bouldern lernen kann.

Daniel Terzenbach, 42, studierte bis 2004 in Dortmund Social Management. Zu Beginn seiner Karriere bei der Bundesagentur für Arbeit war er als Führungskraft im Jobcenter Märkischer Kreis tätig. 2009 wechselte er nach Nürnberg in die Zentrale, wo er zunächst auch für die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zuständig war. Von 2014 bis 2019 schrieb er berufsbegleitend eine Masterarbeit über die Regulierung von Arbeit, Wirtschaft und Organisation an der Ruhr-Universität Bochum. 2019 stieg Terzenbach in den Vorstand der Bundesagentur auf.

Herr Terzenbach, waren Sie schon einmal arbeitslos gemeldet?

Daniel Terzenbach Nach meinem Studium in Dortmund habe ich mich bei der Studienberatung der BA gemeldet, dann allerdings selbst eine Stelle gefunden. Ich melde mich aber heute noch regelmäßig arbeitsuchend.

Fiktiv sozusagen?

Terzenbach Ja, ich rufe unsere Hotline an, weil ich die Abläufe und die Sicht von Bürgerinnen und Bürgern auf uns besser verstehen will.

Sie haben nach dem Studium als Führungskraft im Jobcenter Märkischer Kreis begonnen und sind dann zur Bundesagentur nach Nürnberg gegangen. 2019 sind Sie mit 38 Jahren in den Vorstand aufgerückt. Ist Jugend eine Tugend auf dem Arbeitsmarkt?

Terzenbach Ich möchte lieber über Kompetenzen und Vielfalt sprechen als über Tugenden. Neue und unverbaute Blicke sind in einem Unternehmen immer hilfreich. Auf der anderen Seite haben wir 20 Millionen Beschäftigte in Deutschland, die 50 Jahre und älter sind. Neues Wissen und Erfahrungswissen zu kombinieren, ist, glaube ich, die goldene Mitte.

In vielen Stellenanzeigen stand früher „Ein junges Team erwartet Sie“. Das ist heute nicht mehr unbedingt so.

Terzenbach Arbeitgeber sollten heute lieber schreiben: „Ein vielfältiges Team erwartet Sie.“ Das ist die Zukunft, wobei Vielfalt nicht nur hinsichtlich Alter gemeint ist, sondern genauso in den Fragen der Anschauung, der Herkunft, des Glaubens und der sexuellen Orientierung und natürlich auch Menschen mit Behinderungen einschließt.

Auch der Vorstand der Bundesagentur ist heute vielfältiger als bei Ihrem Einstieg. Wie schwer war es, alte Führungsstrukturen aufzubrechen?

Terzenbach Es geht nicht um alt oder neu. Der Führungsstil muss zum Umfeld passen. Bei Windstärke zwölf kann ich ein Riesenschiff nicht basisdemokratisch steuern. Da brauche ich eine Entscheidungsstruktur, die schlank ist, sich schnell rückkoppelt und dann Beschlüsse fasst. Damals in der Massenarbeitslosigkeit wehte am Arbeitsmarkt Windstärke zwölf. Es mussten Strukturen aufgebrochen werden. Veränderungen, die nicht alle mittragen, können in einem solchen Umfeld realistischerweise am wirksamsten von oben vorangetrieben werden. Man macht sich damit als Führungskraft nicht immer beliebt. Ich habe meinen Vorgängern einiges zu verdanken.

Vorstände müssen Vorbilder sein

Der Top-down-Ansatz wurde nicht mehr gebraucht, als Sie in den Vorstand aufstiegen. Sie profitierten von der Arbeit Ihrer Vorgänger?

Terzenbach Der Wandel von der Bundesanstalt zur Bundesagentur war ein großer Schritt. Durch die Hartz-Reformen wurde Kundenorientierung eingeführt. Jetzt steht ein neues Thema, nämlich Innovation, an. Krisen kann ich künftig immer weniger aus Nürnberg managen, dafür brauche ich selbstständige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Regionen, die explorativ sind, eine Fehlerumgangskultur haben, schnelle und neue Gedanken wagen.

Umfragen zeigen, dass es damit noch hapert in Deutschland. Wie kann man einen besseren Umgang mit Fehlern finden?

Terzenbach Auch wir sind da erst am Anfang. Die oberen Führungskräfte müssen zwingend Vorbilder sein. Mein Eindruck ist, dass es bisher nicht üblich war, dass Vorstände sagen: „Hey, da habe ich danebengelegen. Das würde ich heute anders machen.“ Das ist nicht selbstverständlich, weil man das Gefühl hat, ein Vorstand muss immer richtige Entscheidungen treffen. Wenn man aber zeigt, dass dem nicht so ist, fühlen sich auch mittlere Managementebenen und darunter ermutigt, Fehler zuzugeben.

Wann zum Beispiel haben Sie Fehler eingeräumt?

Terzenbach Unseren „Rahmen für Kultur und Führung“ haben wir zweimal komplett umgeschrieben, weil ironischerweise Rückmeldungen kamen, dass etwa eine Fehlerumgangskultur nicht genannt war. Schwer ist es, wenn ein Fehler passiert, der ein ganzes Team zurückwirft. Auch dann muss man akzeptieren, dass es eine Stärke ist, daraus zu lernen, statt in alte Muster zurückzufallen.

Die alten Muster sind manchmal sehr stark.

Terzenbach Es geht darum, nicht zu schnell zu bewerten. Wenn jemand einen Fehler einräumt, sollte es nicht heißen: „Das hätte aber nicht sein müssen.“ Man sollte versuchen, zu verstehen: „Warum ist es dazu gekommen, und was lernen wir daraus für die Zukunft?“ Das kann man trainieren. Wir haben in unserer Führungsakademie in Lauf und in unseren Führungsstrukturen neben der Fehlerumgangskultur auch eine Feedbackkultur entwickelt.

Die Bundesagentur hat mehr als 150 Agenturen, 300 Jobcenter und 15 Familienkassen. Wie kann man dezentral solche Kulturen durchsetzen?

Terzenbach Für die Anforderungen der Zukunft brauchen wir Innovationen und den Mut, sich ins Unbekannte vorzuwagen. Da haben auch wir noch einen Weg vor uns. Der theoretische Grundstein wird in der Führungsakademie in Lauf und in unseren weiteren zwölf Bildungstagungsstätten gelegt, aber gelernt wird es im täglichen Tun vor Ort. Natürlich gibt es dazu auch Begleitangebote. Seit letztem Jahr finden regelmäßig Mitarbeiterbefragungen statt, ob unser verändertes Führungsverständnis ankommt.

Gibt es erste Ergebnisse?

Terzenbach Toi, toi, toi! Wir scheinen unsere Kolleginnen und Kollegen überwiegend erreicht zu haben. Das Ergebnis ist insgesamt recht gut, aber wir wollen es weiter verbessern.

Blitzreaktion in der Krise

Sie sagten, man muss sich auf Anforderungen der Zukunft vorbereiten, die man nicht absehen kann. Corona war ein Testfall. Sie haben in kurzer Zeit das Kurzarbeitergeld ausgezahlt. Wie schwierig war es, das so schnell umzusetzen?

Terzenbach Das war ein so zentrales, unplanbares Ereignis, dass wir in einer ersten Reaktion entschieden haben, unsere Strukturen zu verändern. Da der persönliche Kontakt nicht mehr möglich war, wollten wir unsere gesamten Dienstleistungen telefonisch und online anbieten. In der Krise rücken unsere Beschäftigten in der Bundesagentur zusammen, wir mussten niemanden motivieren. Wenn es darum geht, Deutschland zu stabilisieren, ist das genug Purpose.

Wo lagen die Hürden?

Terzenbach Wir mussten blitzlichtartig umdenken. Mit der Auszahlung von Kurzarbeitergeld sind normalerweise 700 Leute beschäftigt, wir brauchten aber spontan bis zu 12 000. Wir haben umdisponiert: Der Arbeitsmarkt war eingefroren. Die Schulen waren geschlossen. Daher haben wir Fachkräfte aus der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung umgesetzt. Uns kam zugute, dass wir als Organisation geübt sind, Menschen neue Aufgaben zu geben. Das Schwierige war die Dynamik der Krise. Wir haben alles auf Online-Schulung umgestellt, was bis dahin eher Blended Learning war. Aber dann kommt erst die eigentliche Führungsarbeit. Es ging darum, Mut zu machen, dass niemand eine neue Aufgabe sofort perfekt beherrscht. Dass Fehler passieren werden und niemand für seinen mutigen Einsatz belangt wird. Das war ganz wichtig. Danach haben die Kolleginnen und Kollegen sich getraut loszulegen. Das nächste war Priorisierung. Management macht häufig den Fehler, dass wir sagen: „Uns sind A, B, C wichtig“ und dabei den Subtext senden „D, E, F gehen auch irgendwie weiter“. Deshalb haben wir quartalsweise gesagt, was wir tun, und explizit, was nicht. Wir haben das als Vorstand auf unsere Schultern genommen.

Oft wird stillschweigend erwartet, dass der normale Workload weiterhin erledigt wird.

Terzenbach Der schwerste Schritt für uns als Vorstand war, zu sagen, der Rest fällt wirklich weg. Aber im Nachgang denke ich, dass dies dazu geführt hat, dass die Kolleginnen und Kollegen die Aufgabe stemmen konnten. Die Rahmenbedingungen stimmten: Wir haben ein Aufsichtsorgan, das uns hat machen lassen. Wenn man kein so professionelles Aufsichtsorgan hat, kann es schwer werden. Wir haben Leitlinien erarbeitet mit unserem Verwaltungsrat und immer eng berichtet. Ganz zentral in Krisenphasen ist der Schulterschluss eines Vorstands mit der Personalvertretung. Wir haben mit dem Hauptpersonalrat um das Beste gerungen, bei Gesundheitsfragen, bei Priorisierungs- und Belastungsfragen. Unser vertrauensvolles Verhältnis hat sich da ausgezahlt.

Vertrauen fällt in so einer Situation nicht vom Himmel. Das muss man vorher schon aufgebaut haben.

Terzenbach Das Wesentliche im Management ist meiner Meinung nach, in guten Zeiten für schlechte Vorsorge zu treffen, um damit die Organisation resilienter zu machen. In einer Krise wird oft gesagt: „Für die nächste müssen wir vorbereitet sein.“ Die Bundesagentur hat schon viele Krisen erlebt. Deshalb haben wir Mechanismen, die funktionieren, etwa die Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung und dem Personalrat oder einer performanten Technik.

Dem Fachkräftemangel begegnen

Die Coronakrise haben wir hoffentlich überwunden. Das größte aktuelle Problem auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist derzeit der Fachkräftemangel. Da gibt es Lösungen wie etwa Zuwanderung, aber die werden politisch blockiert. Welche Möglichkeiten hat die Bundesagentur?

Terzenbach Natürlich muss der politische Rahmen stimmen. Gerade beim Thema Einwanderung hat die jetzige Bundesregierung wichtige Änderungen geplant. Ich glaube, wir haben in Zukunft eines der liberalsten und modernsten Einwanderungsrechte weltweit. Wir als Bundesagentur leisten verschiedene Beiträge. Auf der einen Seite machen wir Werbung mit allen Partnerinnen und Partnern im In- und Ausland für Deutschland. Wir haben aber als öffentliche Organisation auch die Verantwortung für reibungslose Prozesse. Dass Menschen, die sich für Deutschland entscheiden, auch schnell mit Familie kommen können, ohne sich in einem Dschungel unterschiedlicher Behörden zu bewegen. Der logische nächste Schritt wäre, dass alle öffentlichen Verwaltungen, die beteiligt sind, ein gemeinsames Datenmanagement haben. Damit neue Mitbürgerinnen und ‑bürger ihre Daten nicht fünfmal angeben müssen. Wir sollten Menschen in Deutschland nicht nur willkommen heißen, sondern alles dafür tun, dass sie auch bleiben. Genauso wie Unternehmen nicht nur das Recruiting professionalisieren, sondern auch das Halten von Beschäftigten ein immer größeres Thema ist. Jedes Jahr verlassen 800 000 bis 900 000 Menschen Deutschland. Wenn man nur diese Zahl reduzieren würde, wäre schon ein großer Beitrag geleistet.

Auch Frauen könnten noch stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Terzenbach Die Beteiligung von Frauen an sozialversicherungspflichtiger Arbeit ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren stark gestiegen, stärker als im übrigen Europa. Aber Frauen arbeiten bisher deutlich weniger Stunden als Männer. Um das zu ändern, müssen bessere Rahmenbedingungen für Kinderbetreuung und Pflegetätigkeiten geschaffen werden, für die ganze Care-Arbeit, die meist Frauen übernehmen. Auch wenn wir es selbst nicht gerne hören: Wir sind immer noch ein sehr traditionelles Land, das im Zweifelsfall die Frauen zu Hause zurücklässt.

Noch einmal zur Rolle der Bundesagentur als Dienstleister. Sie sagten, die sei mit den Hartz-Reformen entstanden. Aber gerade das Wort Hartz 4 hat viele Emotionen ausgelöst und wurde jetzt in Bürgergeld umbenannt. Was bringt der neue Name?

Terzenbach Da ist mehr als eine Namensänderung. Das Wichtigste ist, dass Nachhaltigkeit und Bildung in der Gesetzgebung erstmals zusammengedacht wurden. Das Ziel ist, gemeinsam mit den Menschen einen nachhaltigen Weg in den Arbeitsmarkt zu suchen. Was die Jobcenter heute schon tun, aber in Zukunft ausgebaut wird, ist, dass die Menschen selbst ihren weiteren beruflichen Werdegang noch stärker individuell mitplanen.

Unter Bildung wird häufig verstanden, ein neues Computerprogramm zu lernen. Was ist mit den Menschen, die lieber mit den Händen arbeiten?

Terzenbach Am Arbeitsmarkt gibt es nicht nur Jobs mit einem hohen Anteil an Digitalisierung, sondern auch ganz viele Helferstellen. Das sieht man mit Blick etwa auf die Gaststätten. Dienstleistungen werden eingeschränkt, weil wir nicht nur unter Fachkräftemangel, sondern auch unter Arbeitskräfteknappheit leiden.

Arbeit ist Teilhabe

Das Bürgergeld ist um 50 Euro erhöht worden gegenüber Hartz 4. Dazu kommen weitere Leistungen. Alles zusammen würde ich als Alleinstehende in Frankfurt ungefähr auf 1000 Euro kommen. Lohnt es sich noch, zu arbeiten?

Terzenbach Ich hoffe nicht, dass es Vollzeitjobs gibt, wo ich mit 1000 Euro netto rauskomme. Das läge unterhalb des Mindestlohns. Die Anhebung des Mindestlohns, die auch aufgrund der Inflation nötig war, hat dazu geführt, dass ein Abstand bleibt. Ein wichtiger Punkt: Wissenschaftliche Erhebungen belegen, dass mein Gehalt schneller steigt als die Grundsicherung oder das Arbeitslosengeld, selbst wenn ich auf einem niedrigen Niveau einsteige. Nach dem Einstieg in den Arbeitsmarkt habe ich in der Regel nach zwei, drei Jahren meine ersten Gehaltssprünge und bekomme deutlich mehr als mit einer Grundsicherung. Aber ich will auch die Diskussion um gesellschaftliche Teilhabe führen. Kein Arbeitsloser will sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Arbeit ist so viel mehr als nur Geld verdienen.

Die „Allianz der Chancen“, in der sich Unternehmen zusammengeschlossen haben, um Menschen in neue Tätigkeitsfelder zu bringen, setzt ebenfalls auf Integration in den Arbeitsmarkt. Was kann die Bundesagentur dazu beitragen?

Terzenbach Ich finde es gut, dass Unternehmen sich ihrer Verantwortung bewusst sind, wenn sie durch eine Transformation Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlieren und sich nicht nur auf die Bundesagentur für Arbeit verlassen, sondern diesen Weg mitgestalten und selbst Angebote machen. Andere Unternehmen haben dafür einen großen Personalbedarf. Das Optimale ist, gemeinsam alles dafür zu tun, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst arbeitslos werden, sondern von Job zu Job wechseln. Wir begrüßen natürlich, wenn wir zusammen verhindern können, dass Arbeitslosigkeit entsteht. Das sage ich auch ganz betriebswirtschaftlich als Vorstand einer Sozialversicherung. Arbeitslosigkeit kostet immer mehr als Beschäftigung.

Das zeigt die Bedeutung der Kooperation mit der Wirtschaft: Was sind dafür die Stellhebel? Was könnte man noch verbessern?

Terzenbach Hilfreich wäre, wenn wir über Veränderungsprozesse in Unternehmen frühzeitig Bescheid wüssten. Wenn wir uns gemeinsam mit Unternehmen auch mit den Betriebsräten Gedanken machen könnten, noch bevor der Kittel brennt, hilft es allen Beteiligten. Außerdem werden ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger von Unternehmen berücksichtigt, und dies in einer Phase, in der Unternehmen verstärkt Arbeits- und Fachkräftebedarf melden. Wäre es nicht nachhaltiger, zu bedenken, dass ein 55‑Jähriger eigentlich noch zwölf Jahre dabei ist?

Sie nannten neben dem Fachkräftemangel einen Arbeitskräftemangel. Es gibt einen Sockel von Langzeitarbeitslosen, die sind zehn Jahre, 15 Jahre arbeitslos. Was könnte die Bundesagentur noch unternehmen, um dieser Gruppe den Weg zu ebnen?

Terzenbach Erfreulicherweise hatte sich dieser Sockel vor Corona von 1,3 Millionen auf 700 000 reduziert, um dann zu steigen. Trotz der Krise stehen wir nach knapp einem Jahr mit „normalem“ Arbeitsmarkt wieder bei 880 000. Wir brauchen dennoch einen längeren Atem. Langzeitarbeitslose haben vielfältige Gründe, warum sie langzeitarbeitslos sind. Oft fehlt das formale Know-how, oder es bestehen gesundheitliche Probleme. Die Bundesagentur bietet eine ganze Menge Möglichkeiten, etwa intensives Coaching. Wir als Bundesagentur müssen besser werden, unsere Angebote in den Unternehmen noch bekannter zu machen.

Oft ist es mit Qualifizierung nicht getan. Vielleicht bestehen nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern auch psychische. Und das sind wieder Aufgaben, die Ihre Zuständigkeit übersteigen.

Terzenbach Nicht nur bei Menschen, die langzeitarbeitslos sind, sondern bei allen Beschäftigten ist der Anteil der psychischen Erkrankungen und Belastungserkrankungen in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen, bei Langzeitarbeitslosen allerdings überproportional. Wir brauchen Netzwerke zur psychosozialen Stabilisierung und Coaching. Dafür arbeiten wir mit Kooperationspartnern zusammen.

Welchen Partnern zum Beispiel?

Terzenbach Die Kommunen sind sehr wichtig. In den Jobcentern bieten wir gemeinsam eine psychosoziale Betreuung an. Die Bundesagentur selbst beschäftigt auch Psychologinnen und Psychologen. Psychische Erkrankungen sind kein Tabu, sondern ein ganz normaler Teil einer Gesellschaft.

Die Bundesagentur ist nicht nur Vermittlerin, sondern auch selber Arbeitgeberin als eine der größten Behörden Deutschlands…

Terzenbach Ich finde den Begriff der öffentlichen Dienstleisterin besser als „Behörde“. Wir haben einen sozialen Auftrag. Wir sind öffentlich und auch zur Stabilität einer Gesellschaft da. Aber auf der anderen Seite haben wir den Anspruch einer Versicherung, wirtschaftlich zu arbeiten. Deswegen nutzen wir den Begriff der öffentlichen Dienstleisterin.

Purpose sorgt für Bewerbungen

Das Image der öffentlichen Dienstleisterin in Form des „Arbeitsamts“ oder des „Jobcenters“ ist nicht unbedingt das beste. Wie schwer fällt es Ihnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden?

Terzenbach Wir haben einen Riesen-Purpose. Das haben wir vielen anderen öffentlichen und privaten Institutionen voraus. Natürlich merken wir, dass auch wir weniger Bewerbungen bekommen. Gleichzeitig interessieren sich viele Menschen für eine Tätigkeit bei uns. Wir haben – außerhalb von Krisenzeiten wie Corona – eine niedrige Fluktuation. Aber auch wir als Bundesagentur müssen uns neu erfinden als Arbeitgebermarke. Wir müssen unser Recruitment ändern, müssen mehr die sozialen Medien nutzen. Der Purpose ist unser größtes Gut.

Purpose wird von Boomern hoch geschätzt, jüngere Generationen achten sehr auf Work-Life-Balance. Wie können Sie als Arbeitgeber auf die Ansprüche der jüngeren Generation eingehen?

Terzenbach Es hilft, die Erwartungen von jungen Menschen, die zu uns kommen, zu verstehen, und mit Führungskräften, die schon länger bei uns sind, zu diskutieren. Sonst prallen Welten aufeinander. Außerdem sollte man anerkennen, dass jede Generation unterschiedliche Werte und Einstellungen zur Arbeit hat. Die jüngeren Menschen interessieren sich viel stärker für Nachhaltigkeit und Klimafragen, während bei Älteren die Loyalität ein zentrales Gut ist.

Die Bundesagentur selbst müsste also klimafreundlicher werden. Was könnte sie konkret tun, um attraktiv zu bleiben?

Terzenbach Vorbild sein. Authentisch einem jungen Menschen sagen, was unser Beitrag zur Reduzierung von Treibhausgasen ist – heute, morgen und übermorgen. Wir entwickeln gerade ein Nachhaltigkeitskonzept für die ganze Organisation von den Gebäuden über Mobilität bis hin zu Prozessen. Da haben wir noch eine Menge Möglichkeiten.

Zukunft des Arbeitsmarkts

Definitiv eine Zukunftsaufgabe. Wie wird sich Ihrer Meinung nach der Arbeitsmarkt in den nächsten fünf bis zehn Jahren verändern?

Terzenbach Es wird eher mehr Arbeit als weniger geben, schon aufgrund der demografischen Entwicklung. Der Arbeitsmarkt wird bunter, weil mehr Menschen aus Ländern außerhalb Europas zu uns kommen. Europa ist sehr alt. Das heißt, wir werden vielfältiger in den Unternehmen und am Arbeitsmarkt. Und wir werden digitaler. Die Automatisierung von Prozessen wird alle Branchen erfassen. Nachhaltigkeit und Klimaneutralität spielen außerdem eine große Rolle, insbesondere für die Industrie.

Die Zukunft der Arbeit ist auch ein Thema der DGFP, in deren Vorstand Sie eingetreten sind. Warum haben Sie diese zusätzliche Aufgabe übernommen?

Terzenbach Zunächst einmal können wir als BA dort lernen und unser Wissen teilen: Wie müssen wir uns im öffentlichen Raum weiterentwickeln, um auch der Arbeitgeberseite noch bessere Dienstleistungen zu bieten? Und als Organisation greifen wir dort Impulse auf, wie wir uns als Arbeitgeberin weiterentwickeln können. Daneben bringen die Austauschformate der DGFP Unternehmen zusammen. Hier können wir uns sicher mit unserer Expertise einbringen, etwa mit unseren Beratungs- und Förderleistungen und der Transparenz auf dem Arbeitsmarkt. Und nicht zuletzt hoffe ich, dass ich in meiner Rolle auch dazu beitragen kann, private Unternehmen und die öffentliche Verwaltung näher zusammenzubringen. Hand aufs Herz: Da gibt es manchmal noch Gräben.

Mal weg von der Arbeit. Ihr Hobby ist Bouldern, was kann man denn vom Klettern lernen für die Tätigkeit als Vorstand der Bundesagentur?

Terzenbach Beim Bouldern legt man sich einen Plan zurecht. Wenn man in die Wand steigt, muss man aber flexibel sein, diesen Plan fallenzulassen. Also Punkt eins: Man darf nicht stumpf an Plänen festhalten. Zweitens muss man eine gewisse Risikofreude haben. Wenn man Unternehmen in Krisensituationen stabilisieren will, muss man ebenfalls bewusst ein Risiko eingehen. Dritte Erkenntnis: Wiederholung stählt. Je häufiger ich die gleiche Wand mache beim Bouldern, desto routinierter werde ich auch für die nächste Wand, an der ich ähnliche Muster erkenne. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 und die Coronakrise hatten Parallelen. Wir haben Unternehmen gesehen, die wieder ihren Plan von früher rausholen konnten. Wir haben aber auch solche gesehen, für die die Krise wie Neuland war. Von der einen Situation für die nächste lernen, das ist ein Thema vom Bouldern, das ich jedem mitgeben möchte.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Ralf Steuer und Dr. Charlotte Schmitz.

Downloaden Sie das Interview als PDF.

Das Interview erschien zuerst in unserem Fachmagazin PERSONALFÜHRUNG 04/2023.
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