„Ungewöhnlich, aber folgerichtig und bald Standard“
Personalvorstand Dr. Thomas Ogilvie zur an ESG-Kennzahlen orientierten variablen Vergütung und der generellen Nachhaltigkeitsorientierung der Deutsche Post DHL Group
Kaum hat die Deutsche Post DHL Group ihr sehr gutes Ergebnis für 2022 vorgelegt, muss der Konzern in Deutschland einen Tarifabschluss „an der Schmerzgrenze“ verdauen. Im Durchschnitt steigen die Gehälter bei der Deutsche Post AG um 11,5 Prozent, für Einsteiger*innen in der Paketsortierung sogar um über 20 Prozent. Dazu kommen Einmalzahlungen in Höhe von 3000 Euro. Dr. Thomas Ogilvie, Personalvorstand der Deutsche Post DHL Group, kann mit dem Ergebnis aufgrund der Laufzeit von 24 Monaten dennoch gut leben. Herausfordernd sei es gleichwohl, schließlich würden Milliardeninvestitionen für den Umbau „von Brief zu Paket“ und die Dekarbonisierung benötigt. Die Deutsche Post DHL Group will bis 2050 „Netto-Null-Emittent“ bei CO2 sein.
Dr. Thomas Ogilvie ist Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutsche Post DHL Group. Er hat Psychologie an der Universität Bonn studiert und in Wirtschaftswissenschaften an der Universität St. Gallen promoviert. Ogilvie ist ein „Eigengewächs“ der Deutsche Post DHL Group, seit 2001 ist er im Konzern tätig. Seit 2017 gehört er dem Vorstand an. Ogilvie ist seit 1. Juli 2023 Mitglied des Vorstands der DGFP.
Herr Dr. Ogilvie, auf zwei aktuelle Ereignisse müssen wir eingehen: den Tarifabschluss der Deutschen Post mit Verdi und die einen Tag vorher veröffentlichten Konzernergebnisse für 2022. Wie bewerten Sie den Tarifabschluss und Verhandlungen mit Verdi?
Dr. Thomas Ogilvie Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, quasi in der Verlängerung zu einem Abschluss zu kommen, der uns als Unternehmen für die nächsten zwei Jahre Planungssicherheit gibt, der aber auch spürbare Lohn- und Gehaltssteigerungen für unsere Beschäftigten bedeutet. Wir sind über unsere finanzielle Schmerzgrenze hinausgegangen, weil es ein sehr hoher Abschluss ist, aber am Ende stand das Interesse im Vordergrund, dass wir Streiks vermeiden und für die Transformation in unserem Geschäft, nämlich vom Brief hin zum Paket, den notwendigen Frieden im Betrieb haben.
Verdi war bereit zu streiken, Sie haben lange gezögert. Wie ist Ihr Verhältnis zu der Gewerkschaft?
Ogilvie Bei Tarifverhandlungen kann es immer wieder zu Zuspitzungen kommen, aber am Ende, wenn dann ein Ergebnis erzielt wird, ist das auch tragfähig und belastbar. Der Weg dahin ist oft steinig und schwierig, in diesem Fall war er es besonders.
Das Konzernergebnis für 2022 ist sehr gut, das der Division Post & Paket Deutschland weniger. Was bedeuten der Tarifabschluss und diese Zahlen für Sie als Personalchef?
Ogilvie Unser Konzernergebnis zeigt, dass wir als international breit aufgestelltes Unternehmen und als Branchenführer in der Logistikindustrie ein robustes Portfolio haben. Klar ist aber auch, dass wir innerhalb unserer Unternehmensstruktur immer auf die einzelnen Sparten schauen. In unserem Post- und Paketgeschäft in Deutschland haben wir eine sehr schwierige Situation. Wir haben mit dem Briefversand ein Marktsegment, das nicht zuletzt aufgrund von E‑Substitution strukturell rückläufig ist. Und wir haben einen regulierten Preisrahmen. Der Wechsel von Brief zu Paket erfordert enorme Investitionen in Sortiertechnologie, Gebäudeinfrastruktur und Fahrzeuge. Nicht zu vergessen sind die Investitionen in die Dekarbonisierung mit dem Anspruch, klimaneutraler Logistiker bis 2050 zu werden. Da müssen wir im deutschen Paket- und Briefmarkt genau schauen, wie wir diese Herausforderungen, Lohnerhöhungen für die Beschäftigten zu realisieren und zugleich Luft zum Atmen für zukünftige Investitionen zu haben, in eine Balance bringen.
Differenzierte, passgenaue Regelungen
Lohnerhöhungen stehen oft im Fokus, gerade jetzt, aber es gibt ja noch mehr, was in Tarifverträgen geregelt wird: strukturelle Themen, Beschäftigungsfragen, zeitliche Fragen. Wir achten drauf, dass wir im Konzern Gesellschaft für Gesellschaft das jeweils passgenaue Modell finden, auch für einen großen Rahmen wie die Deutsche Post AG mit 160 000 Tarifbeschäftigten.
Das gilt offensichtlich auch im Hinblick auf die Beschäftigungsbedingungen. Sie haben bei der Deutsche Post AG eine Betriebsvereinbarung zum ortsflexiblen Arbeiten, aber für einen Großteil Ihrer Beschäftigten kommt die gar nicht infrage.
Ogilvie Wir haben keine globale Homeoffice-Politik oder Flex Working Policy. Vom Wohnzimmer aus können ja keine Briefe oder Pakete zugestellt werden. 85 Prozent unserer weltweit rund 600 000 Beschäftigten arbeiten am Kunden oder am Paket. Aber wir haben auch die indirekten Funktionen, bei denen flexibles Arbeiten Relevanz hat. Wir haben uns dafür entschieden, einen föderalen Ansatz zu wählen. Die Divisionen können für sich festlegen, aufgrund ihrer Beschäftigungsstruktur flexibles Arbeiten zu ermöglichen. In Deutschland ist das für indirekte Funktionen an vielen Stellen an bis zu drei Tagen in der Woche möglich.
Messen und steuern
Egal ob Konzernabschluss oder Konzernstrategie: Überall wird die Wichtigkeit des Themas Nachhaltigkeit für die Deutsche Post DHL Group sichtbar. Was ist Ihr Zielbild?
Ogilvie In der Tat sind unsere ESG-Maßnahmen ein integraler Bestandteil unserer Konzernstrategie, und sie sind auch mit klaren messbaren und steuerungsrelevanten Zielgrößen versehen. Für „E“ wie Environment ist es das Ziel, unsere gesamten Logistikaktivitäten bis 2050 zu dekarbonisieren – und zwar mit messbaren Zwischenzielen, also eine spürbare Reduktion bis 2030, trotz Geschäftswachstum. Zur Realisierung dieser ambitionierten Ziele haben wir ein Bündel von Maßnahmen in Höhe von bis zu sieben Milliarden Euro verabschiedet. Primär werden diese für den Ausbau nachhaltiger Technologien und Kraftstoffe in Flotten und Gebäuden verwendet. Dabei steht besonders der Flugverkehr im Fokus, da zwei Drittel unserer CO2‑Emissionen aus dem Bereich Aviation kommen.
Wir wollen zudem eine „Great Company to Work for All“ sein. Das betrifft die „S“‑Säule und ist das, was mich in meinem Tagesgeschäft am meisten umtreibt. Auch dieses Ziel erachten wir als steuerungsrelevant und machen es in verschiedenen Dimensionen messbar. Ausfälle durch Unfälle ist bei uns eine steuerungsrelevante Kennzahl. Wir messen regelmäßig das Mitarbeiterengagement und haben das Thema Diversität und Inklusion, das über den Anteil von Frauen in Führungspositionen gemessen wird. Unser Anspruch ist es, bis 2030 mindestens 30 Prozent Frauen in Führungspositionen zu haben. Zu sozialer Verantwortung gehört für uns auch die lückenlose Umsetzung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes, das sich auch auf die Einhaltung von Arbeits- und Menschenrechten bezieht. Und dann bleibt „G“ wie Governance. Hier sind Aspekte von Compliance bis IT-Sicherheit zusammengefasst. Unser Leitsatz lautet: „We want to be the most trusted company in the industry.“
Nehmen wir uns einmal zwei ESG-Kennzahlen vor: THG-Emissionen und realisierte Dekarbonisierungseffekte. Wie kommen Sie als Unternehmen hier zu anspruchsvollen Zielsetzungen?
Ogilvie Den Rahmen bildet das ultimative Ziel der Netto-Null-Emission von Treibhausgasen bis 2050. Wir haben als Teil der international renommierten Science Based Targets Initiative (SBTi) dafür den Abbaupfad dargelegt und konkrete Zwischenschritte benannt. Ziel ist eine Reduzierung des jährlichen Treibhausgasausstoßes des Konzerns von im vergangenen Jahr 36 auf unter 29 Millionen Tonnen trotz Geschäftswachstum bis 2030. Wir machen transparent, was wir in jedem Jahr erreichen und haben allein 2022 im Vergleich zum Vorjahr eine Million Tonnen CO2 reduziert.
Handelt es sich bei der Bestimmung der KPIs beim Thema ESG also um einen klassischen Top-down-Prozess?
Ogilvie Wir haben ein gemeinsames Ziel und operationalisieren je nach Division. Unser Unternehmensbereich Supply Chain zum Beispiel, der vor allem Lagerhäuser betreibt, hat andere CO2-Quellen als etwa DHL Express oder der Bereich Seefracht. Somit gibt es auch andere Möglichkeiten, was das Thema Technologie oder Verfügbarkeit von Alternativen angeht.
Nur drei ESG-Kennzahlen sind für den Vorstand vergütungsrelevant, beispielsweise nicht der Energieverbrauch, der im Konzern zwischen 2021 und 2022 weiter angestiegen ist…
Ogilvie Vergütungsrelevant beim Thema ESG sind, was das „E“ angeht, die realisierten Dekarbonisierungseffekte. Doch auch der Energieverbrauch unterliegt der Notwendigkeit der Auditierung durch den Wirtschaftsprüfer und ist somit eine vergleichbar „harte“ Kennzahl wie etwa Umsatz oder Cashflow.
ESG ist vergütungsrelevant
ESG ist ein Querschnittsthema. Wie sieht das „ESG-Operating Model“ in Ihrem Konzern aus?
Ogilvie Wir haben als letzte Entscheidungsinstanz, sowohl was das Thema strategische Zielrichtung als auch das Nachhalten des Fortschritts und der Investitionsentscheidungen anbelangt, unseren Konzernvorstand. Zusätzlich haben wir ein „Sustainability Steering Board“ aufgesetzt, das aus unserem Vorstandsvorsitzenden, der das „E“ vertritt, unserer Finanzvorständin, die das „G“ vertritt, und mir mit der Zuständigkeit für „S“ besteht. Wir tagen regelmäßig mit den Divisionen, um die Themen und Fortschritte bei der Umsetzung unserer ESG-Roadmap im Detail zu besprechen. Und dann ist es letztlich meine Aufgabe, zusammen mit dem HR-Board die Umsetzung der festgelegten Ziele entlang der Dimensionen von „S“ sicherzustellen.
Ab 2022 sind in der Vorstandsvergütung der Deutsche Post DHL Group die drei ESG-Themen mit jeweils zehn Prozent gewichtet. Um welche handelt es sich?
Ogilvie Wir hatten im vergangenen Jahr drei vergütungsrelevante Messgrößen, von denen wir im laufenden Jahr zwei beibehalten. Eine dritte kommt neu hinzu. Die eine umfasst die realisierten Dekarbonisierungseffekte. In der sozialen Säule haben wir das Thema Mitarbeiterengagement mit dem hohen Anspruch, bei der Kennzahl Employee Engagement mindestens 80 Prozent zu erreichen. Wir sind aktuell bei 83 Prozent, einen Prozentpunkt unter dem „Allzeithoch“ und damit auf einem sehr guten Niveau. Um das zu halten, ist eine ganz andere Herangehensweise erforderlich, als Kapital in grüne Projekte zu allokieren. Da geht es um Leadership, Führungskräfteentwicklung, das Sicherstellen guter Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten sowie Mitarbeiterprogramme. Diese Aspekte betreffen aber auch die Unternehmenskultur. Jede und jeder soll sich bei uns willkommen und integriert fühlen. Im Bereich Governance hatten wir bisher als Messgröße die Erfüllungsquote, verpflichtende Compliance-Trainings durchzuführen. Das werden wir in diesem Jahr verändern.
Welche vergütungsrelevante Kennzahl kommt warum hinzu?
Ogilvie Als Teil der globalen Lieferketten tragen wir Verantwortung für das Funktionieren vieler Unternehmen in wichtigen Industriezweigen. Cyber-Sicherheit ist angesichts der hohen Vernetzung und des Umfangs der Digitalisierung von essenzieller Bedeutung für unser Geschäft und das unserer Kunden. Daher haben wir hier ein Cybersicherheits-Rating einer externen Agentur als Maßstab definiert. Dieses Rating bewertet die Sicherheitslage und weist das bewertete Unternehmen auf mögliche Sicherheitsrisiken hin. Im Gegensatz zu manuellen Einschätzungen bietet das Transparenz und ermöglicht durch die Standardisierung eine Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmen.
Die Rolle des Kapitalmarkts
Eine weitere Veränderung betrifft die Ausdehnung der variablen ESG-Vergütung auf die oberen Führungskräfte. Das ist ungewöhnlich. Welche Ziele und Kennzahlen spielen dabei eine Rolle?
Ogilvie Das mag jetzt noch ungewöhnlich sein, aber es ist folgerichtig, und ich bin mir ziemlich sicher, dass dies in den nächsten Jahren zum Standard werden wird. Dies zeigt auch die Aufmerksamkeit, die der Kapitalmarkt und Ratingagenturen diesem Thema widmen. Wir hatten in der Vergangenheit unser Zielsystem entlang der drei Bottom-Lines „Arbeitgeber erster Wahl“, „Anbieter erster Wahl“ und „Investment erster Wahl“ aufgebaut. Das war immer auch synchronisiert zwischen dem Vorstand und den zweitausend Topführungskräften im Konzern. Wenn nun das Zielsystem für den Vorstand ESG-Kriterien enthält, ist es konsequent, das entsprechend auch mit den oberen Führungskräften zu synchronisieren – und zwar nicht mit anderen Messgrößen, sondern kohärent.
Der Druck beim Thema ESG ist seitens des Kapitalmarkts sehr hoch…
Ogilvie Das Thema Nachhaltigkeit ist in der Investment-Community sehr stark präsent. Viele Fonds treffen Kapitalentscheidungen ausschließlich für Unternehmen, die ESG-Standards messbar entsprechen. Das sehe ich aber weniger als Druck, sondern als eine Differenzierungs- und Qualitätskomponente. Natürlich bleibt das finanzielle Ergebnis eine wesentliche Komponente in der Bewertung einer Aktie, aber die Qualität des finanziellen Ergebnisses wird nach oben gehoben, wenn es einhergeht mit einer sehr guten ESG-Performance.
ESG-Themen sind nicht gleichzusetzen mit HR-Themen. Gibt es auch eine steigende Bedeutung von HR für Akteure des Kapitalmarkts?
Ogilvie Ich bin davon überzeugt, dass nicht zuletzt in Zeiten von Arbeitskräftemangel, demografischer Entwicklung und einer größeren Sichtbarkeit von HR das Thema Human-Capital-Management als strategischer Erfolgsfaktor von Unternehmen an Bedeutung gewinnen wird. Allerdings gibt es keine einheitliche Währung und auch keine einheitliche Währungskonversion, wenn über HCM gesprochen wird. Wenn Sie in den USA einen Dialog darüber führen, landen Sie unweigerlich bei spezifischen Aspekten von Diversity, Equity, Inclusion oder Belonging – Stichwort Black Lives Matter. In Deutschland stehen andere Fragen im Vordergrund, und in Asien ist es nochmal anders. Unsere Aufgabe ist, zu schauen, wie das definitiv wichtiger werdende Thema HCM allgemeingültig erzählt, aber lokal vermessen und quantitativ dargestellt werden kann.
„Besetzungsherausforderungen“ gemeinsam bewältigen
Das Thema Fachkräftemangel wird dieses Jahr ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Allerdings sprechen Sie von „Besetzungsherausforderungen“. Worin besteht der Unterschied?
Ogilvie Wir haben in Deutschland, aber auch europaweit, regional bezogen höhere Arbeitslosenquoten als in anderen Gebieten. Und wir haben gleichzeitig Nachfragespitzen in ganz bestimmten Ballungsgebieten oder Regionen. Deswegen spreche ich von Besetzungsherausforderungen. Man muss sich das Thema immer lokal angucken, auch wenn es volkswirtschaftlich gesehen einen Arbeitskräftemangel gibt. Den lokalen Besetzungsherausforderungen müssen wir uns in einer spezifischen Weise stellen.
Nehmen wir etwa die Stadt Leipzig: Wir betreiben dort unser größtes europäisches Hub und sehen, dass es extrem herausfordernd ist, den Arbeitskräftebedarf lokal zu decken. Deswegen haben wir mehr als 300 Kräfte in Spanien, wo die Arbeitslosenquote nicht zuletzt bei jungen Menschen relativ hoch ist, für den Bereich Luftverkehrsmanagement qualifiziert. Diese sind gemeinsam mit ihren Familien nach Leipzig gezogen.
Diese Aufgabe bewegt auch die Allianz der Chancen, in der Sie ebenso wie die DGFP engagiert sind. Was ist Ihr Motiv?
Ogilvie Der Grundgedanke ist, dass es immer besser ist, von Arbeit in Arbeit zu vermitteln. Wir haben als Unternehmensakteure, aber am Ende auch der Staat beziehungsweise die Bundesagentur für Arbeit, ein gemeinsames Interesse daran, Personalabbau- und Personalaufbaudynamiken, insbesondere vor dem Hintergrund von Strukturwandel, besser zu verstehen. Wenn bei einer Firma qualifizierte Produktionsarbeiter aufgrund der Transformation hin zur Elektromobilität eine Anschlussbeschäftigung brauchen und wir in unseren Brief- und Paketzentren Bedarf an Technikern oder Mechanikern haben, dann kann das eine Win-Win-Situation werden.
Die Allianz der Chancen hat etwas mehr als fünfzig Mitglieder, die eine Impulsgeberfunktion haben. Zusammen mit anderen Unternehmen setzen wir uns dafür ein, noch bestehende Hürden für einen schnellen Zugang von Zugewanderten zum deutschen Arbeitsmarkt zu beseitigen. Es geht darum, den Strukturwandel zu bewältigen. Wir haben das Ziel, solche Prozesse skalierbar zu machen. Auch deswegen ist eine wichtige Institution wie die Bundesanstalt für Arbeit sehr eng eingebunden. Durch eine bessere Vernetzung der Akteure am Arbeitsmarkt können alle profitieren und die Zukunft der Arbeit gemeinsam gestalten.
Nicht nur Hochqualifizierte nach Deutschland holen
Die Ampel-Regierung will dieses Jahr die Fachkräfteeinwanderung weiterentwickeln. Entsprechen die bisher bekannten Vorstellungen der Regierung dazu Ihren eigenen?
Ogilvie Eine Mobilisierung allein des nationalen Arbeitskräftepotenzials, etwa durch eine längere Lebensarbeitszeit oder höhere Erwerbsquote von Frauen, wird garantiert nicht ausreichen. Am rechten politischen Rand und von Populisten wird gesagt, Zuwanderung führe dazu, dass Menschen, die schon hier leben, Arbeit weggenommen wird. Das Gegenteil ist der Fall. Wir brauchen gesteuerte Zuwanderung, weil wir ohne diese zukünftig unsere sozialen Sicherungssysteme nicht finanzieren und die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft nicht aufrechterhalten können.
Dies gilt aber nicht nur für hoch qualifizierte Fachkräfte. Wir müssen auch formal betrachtet niedrig qualifizierte Menschen zu uns holen, weil diese Basisarbeiten in bestimmten Regionen nicht mehr vom lokalen Arbeitskräfteangebot geleistet werden können. Aber Zuwanderung endet nicht mit einem Gesetz, das diese regelt, sondern wir brauchen auch eine gelingende gesellschaftliche Integration. Das hat etwas mit Spracherwerb zu tun – und auch der sozialen Perspektive mit Blick auf Familiennachzüge.
In Ihrem Unternehmen wurde 2011 der „Generationenvertrag“ eingeführt, und 2018 haben Sie sogar ermöglicht, Alterszeit bereits ab 55 statt 59 Jahren in Anspruch nehmen zu können. Ist das Modell vor dem Hintergrund der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Rentenversicherung noch zeitgemäß?
Ogilvie Unser Generationenvertrag unterscheidet sich grundlegend von Altersteilzeitmodellen in anderen Unternehmen. Er dient ausdrücklich der Gestaltung altersgerechten Arbeitens, nach Möglichkeit bis zur Regelaltersrente. Altersteilzeit wird daher bei uns in aller Regel kontinuierlich mit reduzierter Wochenarbeitszeit durchgeführt, beispielsweise im sogenannten Jobsharing. Zeitwertkonten ermöglichen zusätzlich freie Zeit. Teilnehmende Beschäftigte sind mit dem Generationenvertrag in der Lage, ihre Lebensarbeitszeit über verschiedene Lebensphasen hinweg aktiv zu gestalten. Dieses Bedürfnis nimmt nach unserer Wahrnehmung grundsätzlich seit Jahren zu. Mittlerweile sind es mehr als 30 000 Teilnehmende. An den hohen Teilnehmerzahlen sehen wir deutlich, dass der Generationenvertrag bei den Beschäftigten gut etabliert ist und die Bedürfnisse des altersgerechten Arbeitens trifft.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führten Ralf Steuer und Rainer Spies.
Das Interview erschien zuerst in unserem Fachmagazin PERSONALFÜHRUNG 07-08/2023.
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