Führung aus dem Hintergrund

Menschen lernen durch Beobachtung und Imitation, wobei das Vorbild selbst nicht anwesend sein muss. Auch fiktive Figuren aus TV‑Serien können Führungswissen vermitteln. Beispielsweise ist „Der Professor“ aus der Netflix-Serie „Haus des Geldes“ ein Vorbild für strategisches Denken und Szenarioplanung.

In der spanischen Netflix-Serie „Haus des Geldes“ spielt eine Führungskraft der besonderen Art die Hauptrolle. Sergio Marquina – bekannt als „Der Professor“ – bereitet akribisch einen spektakulären Überfall auf die Banknotendruckerei und Münzprägeanstalt Spaniens vor. Er hat die Überfallstrategie über Jahrzehnte entwickelt und stellt sich ein Team zusammen, das von IT-Expertise bis hin zu Metallurgie die wichtigsten Eigenschaften vereint, um das Projekt erfolgreich durchzuführen. Im Verlauf der Serie entwickelt er nicht nur ein unglaubliches Team, sondern wird zum Helden der spanischen Bevölkerung – zu einer Art Widerstandskämpfer gegen das kapitalistische Establishment.

Der Professor ist jedoch alles andere als eine extrovertierte, charismatische Führungspersönlichkeit. Er ist ein introvertierter Denker, dessen Stärke vor allem in der Visionierung und strategischen Planung seines Vorhabens liegt. Auch wenn er vermeintlich alle Details bedenkt, so macht ihm regelmäßig das Unvorhersehbare einen Strich durch Plan A. Praktischerweise hat er aber noch Plan B bis Z in der Tasche und so gut wie jede mögliche Wendung vorgedacht, alternative Schachzüge geplant, und er passt seine Strategie ständig an. Er überzeugt nicht nur mit seinem Planungstalent, sondern vor allem mit seiner Vision. Damit bewegt er schlussendlich nicht nur sein Team, sondern das ganze Land.

Leadership Lesson #1

Szenarien als strategisches Denkwerkzeug

Wenn jemand verstanden hat, wie strategisches Denken und Szenarioplanung wirklich funktionieren, dann der Professor. Er hat eine Vision und einen Plan. Jede Bewegung, jeder Zeitplan ist durchdacht – über Monate hinweg. Ein typischer Handlungsstrang der Serie ist, dass etwas passiert, das den ursprünglichen Plan zunichtemacht. Der Professor passt vermeintlich flexibel das Handeln an, doch dann wird deutlich: Auch das hat er mitgedacht. Eigentlich ist er einfach nur von Plan A auf Plan D ausgewichen, da das entsprechende Szenario eingetreten ist. Der Professor ist ein hochintelligenter Nerd, der sein ganzes Leben diesem großen Coup unterordnet – das trifft wahrscheinlich nicht auf jede Person in Führung zu. Was wir dennoch davon lernen können, ist, in der Strategiearbeit die Arbeit in Szenarien mitzudenken. Häufig legen wir uns auf eine Strategie fest. Das ist im Sinne des stringenten Handelns und der Kommunikation in die Organisation hinein auch wichtig. Aber was tun wir, wenn sich die Kontextfaktoren ändern? Diese halten sich nicht an die klassischen strategischen Planungszyklen.

Leadership Lesson #2

Vertrauen entsteht durch Vertrauen

Um die richtigen Menschen an Bord zu holen, macht der Professor sich und seinen Plan vor kriminellen Menschen sichtbar. Er geht damit ein großes Risiko ein, da er Menschen rekrutiert, die er – zumindest zum Teil – nicht kennt. Ihm gelingt es, das Vertrauen von einer ganzen Gruppe hochkrimineller Menschen zu gewinnen, weil er in Vorleistung geht. Er hilft ihnen und gibt einen Vertrauensvorschuss. Ein Beispiel dafür ist die Rekrutierung von Tokio. Sie ist eine Diebin, die mehrere bewaffnete Raubüberfälle begangen hat. Nach dem letzten Coup ist ihr Freund erschossen worden. Die Polizei fahndet nach ihr, sie ist psychisch angeschlagen und hat nichts mehr zu verlieren. Der Professor spürt sie in einem abgelegenen Versteck auf und spricht sie ruhig an. Er bietet ihr nicht nur Schutz vor der Polizei, sondern auch eine neue Perspektive: Teil eines großen Plans zu werden. Was ihn dabei besonders auszeichnet, ist seine empathische Ansprache: Er kennt ihre Geschichte, ihre Verluste, ihre Fähigkeiten – und genau daran knüpft er an. Tokio, die sich selbst als impulsiv und gefährlich beschreibt, bekommt von ihm Vertrauen und Verantwortung zugesprochen. Sein Führungshandeln ist hier geprägt von psychologischem Feingefühl. Auch wenn ihm das Aufbauen von Beziehungen als extrem introvertierte Person nie leichtfällt, so weiß er doch sehr genau, wie wichtig die Verbundenheit und Loyalität für sein Vorhaben sind.

Leadership Lesson #3

Menschen folgen Geschichten

Der Professor ist ein Geschichtenerzähler. Er legt in der Vorbereitung des Überfalls viel Wert darauf, eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Die Teilnehmenden geben sich alle Städtenamen als verdeckte Identität. Es wird das Bild des gewaltlosen Widerstands gegen ein ungerechtes System gezeichnet, er versteht sich und sein Team als moderne Robin Hoods. Dieses Narrativ gibt den Verbrechen plötzlich einen Sinn. Es geht nicht mehr nur um die Erbeutung von viel Geld (das aber sicherlich auch), sondern auch darum, gemeinsam für ein höheres Ziel zu kämpfen. Diese Idee wird nicht nur von seinem Team übernommen – sie geht auch auf die Bevölkerung über. Durch eine geschickte Medienstrategie sowie bewusste Symbolik wie die Masken und die roten Overalls schafft der Professor ein kulturelles Phänomen. Er steuert nicht nur sein Team, sondern macht sich auch den gesellschaftspolitischen Diskurs zunutze. Die öffentliche Stimmung kippt. Der Staat ist unter Beobachtung und muss nun eine gewaltfreie Lösung finden. Die gesuchten Verbrecher*innen werden nicht mehr als Kriminelle wahrgenommen, sondern als edle Widerstandskämpfer*innen.

Leadership Lesson #4

Beziehungen lassen sich nicht planen

Der Professor ist ein Stratege der Extraklasse. Dabei benutzt er auch Beziehungen als strategisches Werkzeug. Doch Menschen sind keine Variablen – Beziehungen lassen sich nicht programmieren. Als großes Mastermind im Hintergrund sitzt der Professor während der Überfälle meist außerhalb des Gebäudes, abgetrennt vom Team, um die Situation von außen zu steuern. Damit ist er jedoch auch separiert von den sozialen Mechanismen und Prozessen, die in dieser Extremsituation im Team entstehen. Er hat keinen wirklichen Einfluss darauf. Einige Teammitglieder verlieren nach und nach das Vertrauen, und es wird Platz gemacht für Menschen, die ebenfalls die Führung übernehmen und seinem Plan nicht mehr folgen wollen. Führungsarbeit ist immer ein Balanceakt. Sich emotional zu sehr zu distanzieren, bedeutet Entfremdung; sich zu sehr zu involvieren, birgt die Gefahr, nicht mehr für die Sache entscheiden zu können. Führungsarbeit ist aber immer auch Beziehungsarbeit – die komplette emotionale Abschottung kann auf Dauer nicht erfolgreich sein.

Leadership hat viele Gesichter. Haus des Geldes zeigt eindrucksvoll, dass erfolgreiche Führung nicht zwingend von laut auftretenden, charismatischen Figuren ausgehen muss. Auch ein zurückhaltender, strategisch denkender Kopf im Hintergrund kann ein Team zu Höchstleistungen bringen – wenn die Vision stimmt und klug kommuniziert wird. Die Serie ist dabei mehr als nur Spannung: Sie liefert auf unterhaltsame Weise Anschauungsmaterial dafür, wie strategisches Management funktioniert – von der Idee über die Szenarioplanung bis zur Umsetzung. Und sie erinnert uns an etwas, das in vielen Organisationen unterschätzt wird: die Kraft von Geschichten in der Strategiekommunikation. Denn letztlich ist es das Narrativ, das Menschen verbindet – und Strategien lebendig macht.

 Johanna Voigt, Corporate-Learning-Beraterin und Führungskräfteentwicklerin bei HRpepper, Berlin