„Liebeserklärung an die Freiheitsfähigkeit“

Christian Harms, dm Geschäftsführer für das Ressort Mitarbeiter und Arbeitsdirektor, über selbstorganisiertes Arbeiten und individuelle Verantwortung

Mit 90 000 Beschäftigten und 4100 Filialen ist die Drogeriemarktkette dm Marktführer in Europa. Personalgeschäftsführer Christian Harms fördert Eigenverantwortung – und beruft sich auf Managementautor Reinhard K. Sprenger, der die Meinung vertreten habe, man müsse die richtigen Menschen finden und ihnen dann aus dem Weg gehen, damit sie ihren Job machen können.

Christian Harms startete 1996 als Student der Berufsakademie Karlsruhe bei dm. Er übernahm 1999 die Leitung einer Filiale in Rosenheim und stieg innerhalb von zwölf Jahren über Stationen als Gebietsverantwortlicher und Sortimentsmanager Marketing + Beschaffung zum Geschäftsführer auf.

Herr Harms, neben Ihren Aufgaben im Ressort Mitarbeiter haben Sie die Regionsverantwortung für die dm‑Märkte in Hamburg, Bremen, in Teilen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens, in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Füllt die HR-Arbeit im Dialogicum, dem dm‑Unternehmenssitz in Karlsruhe, den Tag nicht aus?

Wir sind im Dialogicum als Dienstleistungsressort Mitarbeiter mit 650 Menschen für unsere internen Kundinnen und Kunden verantwortlich. Dafür erhalten wir sehr viel unmittelbares Feedback. In der Regionsverantwortung geht es um das Kundenerleben in den Märkten, für das die Mitarbeitenden dort Verantwortung übernehmen. Wir sind, wenn man klassisch hierarchisch denkt, relativ flach aufgestellt. Wir haben Stand heute 2150 dm-Märkte mit den jeweiligen Marktverantwortlichen in Deutschland. Dann gibt es in der nächsten Dimension Gebietsverantwortliche, die jeweils rund 30 Märkte verantworten. Und dann kommen Regionsverantwortliche, die gleichzeitig Geschäftsführer sind. Bei mir sind es rund 360 Märkte mit 7332 Mitarbeitenden. So haben wir einen sehr kurzen Draht in unsere dm-Märkte und erhalten schnelles Feedback von unseren Kundinnen und Kunden. Wir Geschäftsführer sind damit alle auch operativ eingebunden.

Die Strategie liegt also bei HR, das unmittelbare Erleben in den Märkten.

Die kurzfristigeren Wirkungen der Aktivitäten in unserem operativen Geschäft sind immer ganz andere als die langfristigen Auswirkungen unseres Handelns im Ressort Mitarbeiter. Hier legen wir jetzt den Grundstein für Dinge, die in mehreren Jahren passieren.

„Hier bin ich Mensch“

Im Frühjahr haben Sie Impulse zur Unternehmensphilosophie als Print aufgelegt. Unter dem Titel „Hier bin ich Mensch“. Warum müssen Sie das betonen?

Das ist abgeleitet aus dem 1995 eingeführten dm-Claim „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ – angelehnt an das Goethe-Zitat aus dem Osterspaziergang „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“. Der Satz wirkt in zwei Richtungen: zum einen nach außen in Richtung unserer Kundinnen und Kunden, unserer Arbeitgeber, also der Menschen, die unser Gehalt bezahlen, und zum anderen selbstverständlich nach innen. Wir formulieren den Anspruch, den wir sowohl in der Kundenorientierung als auch in der Mitarbeiterorientierung haben. Man kommt jeden Tag zur Arbeit, bringt sich ein und erlebt: „Ja, hier werde auch ich als Mensch wahrgenommen.“

“Der Satz wirkt in zwei Richtungen: zum einen nach außen in Richtung unserer Kundinnen und Kunden, unserer Arbeitgeber, also der Menschen, die unser Gehalt bezahlen, und zum anderen selbstverständlich nach innen.”

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Diesen Anspruch wollen Sie mit der internen Veröffentlichung stärken?

Der kategorische Imperativ von Kant bildet unsere Basis. Ich versuche, die Menschen so zu behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte. Das drückt „Hier bin ich Mensch“ ganz gut aus. Jeder und jede soll in seiner oder ihrer Individualität wahrgenommen werden, genau wie es in den dm-Grundsätzen steht, die es quasi unverändert seit Anfang der 1980er-Jahre gibt. Gleichzeitig erkennen wir an, dass Menschen entwicklungswillig und ‑fähig sind und es verdient haben, in dem Grad der Freiheit tätig werden zu können, den sie einfordern. „Wir machen den Unterschied“, so steht es auf der Arbeitskleidung der dm-Mitarbeitenden.

Und das verstehen alle Mitarbeitenden?

In einem Geschäft mit Alltagsprodukten wie Zahnpasta oder Toilettenpapier ist die Frage, wie können wir das, was wir tun, so besonders machen, dass nicht nur Kundinnen und Kunden sich für uns entscheiden, sondern eben auch der Mensch, der sich in die Arbeitsgemeinschaft einbringen will?

“Jeder und jede soll in seiner oder ihrer Individualität wahrgenommen werden, genau wie es in den dm-Grundsätzen steht, die es quasi unverändert seit Anfang der 1980er-Jahre gibt.”

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Einfach machen lassen

Sich einbringen erfordert ein hohes Maß an Selbstverantwortung. Was können Sie dafür tun?

Man muss die Mitarbeitenden machen lassen.

Das müssen Sie uns erklären.

Da möchte ich eine Anleihe nehmen bei Managementberater Reinhard K. Sprenger, der sagte, es gehe darum, die richtigen Menschen zu finden und ihnen dann aus dem Weg zu gehen, damit sie ihren Job machen können.

Um sie nicht zu demotivieren.

Wir können Menschen nicht motivieren. Motivieren kann man sich nur selbst. Wir können auch niemanden lehren, lernen kann man nur selbst. Deswegen gibt es bei uns auch keine Auszubildenden, sondern Lernlinge. Unser Job, also der der Geschäftsführung und der der ganzen Arbeitsgemeinschaft, ist es, die Rahmenbedingungen herzustellen, in denen Menschen sich so entwickeln können, wie sie das möchten. Da gibt es Mitarbeitende, die sind mit einem kleineren Maß an Kreativität und Entfaltung schon sehr zufrieden. Schließlich gibt es auch noch ein Leben außerhalb von dm, das darf man nicht ganz außer Acht lassen. Und es gibt Menschen, die haben einen größeren Gestaltungswillen oder wollen mehr Verantwortung übernehmen. Dem müssen wir Rechnung tragen.

“Unser Job, also der der Geschäftsführung und der der ganzen Arbeitsgemeinschaft, ist es, die Rahmenbedingungen herzustellen, in denen Menschen sich so entwickeln können, wie sie das möchten.”

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Wie findet man das heraus, wer im Moment gerade wo steht?

Im Miteinander, im Gespräch.

Das funktioniert aber nur in kleinen Einheiten.

Wir können von hier aus strategisch den Rahmen, die Bedingungen, die Voraussetzungen schaffen. Wie das konkret umgesetzt wird, das geht nur in den einzelnen Teams – hier im Dialogicum, in den Verteilzentren und auch in den dm-Märkten. Die Menschen verbringen dort einen nicht unerheblichen Teil ihrer Lebenszeit. Und da ist es ein bisschen wie in der Familie. Der eine räumt lieber die Spülmaschine aus, der andere saugt dafür gern Staub. Im Markt fühlt sich der eine wohl, wenn er mehrere Stunden an der Kasse verbringt und die persönliche Interaktion mit Kundinnen und Kunden hat. Ein anderer hat aber mehr Spaß an Gestaltung, möchte lieber einen Produkt-Aufbau machen oder eine bestimmte Kampagne unterstützen. Das entscheiden die Mitarbeitenden vor Ort – so kann jeder seine Stärken einbringen und den dm-Markt aktiv mitgestalten.

“Die Gespräche mit den Menschen zu führen, ist die klassische Führungsaufgabe vor Ort.”

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Was bleibt da für die HR-Ebenen, wenn im Markt alles selbst organisiert wird?

Alles, was sich sinnvollerweise bündeln lässt, versuchen wir zu bündeln. Die Entgeltabrechnung und die konzeptionelle Arbeit etwa für die Ausbildung werden nicht in jedem Markt gemacht. Das wäre bei Marktteams von im Schnitt mehr als 20 Menschen nicht sinnvoll. In der Talententwicklung können wir aus dem Ressort Mitarbeiter unterstützen. Aber die Gespräche mit den Menschen zu führen, ist die klassische Führungsaufgabe vor Ort. Wir helfen bei der Vorauswahl, jedoch das Finden und das Gewinnen neuer Mitarbeitender, genau wie die Begleitung auf der Mitarbeitendenreise und auch – irgendwann, wenn es dann so weit ist – die Trennung sind klassische Führungsaufgaben bei uns. Und die finden in den jeweiligen Teams statt.

Möglichst viel Transparenz

Wird auch über die Produktpalette in den Märkten entschieden?

Jeder Mitarbeiter kann den Stückertrag jedes Produkts digital nachschlagen. Wir denken, dass das größtmögliche Maß an Transparenz notwendig ist, um gute betriebswirtschaftliche und kundenorientierte Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt, dass manche Märkte 300 und andere deutlich über 1000 Quadratmeter haben. Deshalb arbeiten wir mit Sortimentsmodulen. In einem Stadtviertel mit einem ausgeprägten ökologischen Bewusstsein kann der Markt unser Bio-Lebensmittelsortiment erweitern oder Naturkosmetik stärker präsentieren. Bei Babynahrung oder Küchenrollen können die Teams ein Produkt austauschen gegen ein anderes aus dem Sortiment.

Das Team oder Marktverantwortliche?

Der oder die Marktverantwortliche entscheidet und verantwortet das Sortiment und den Deckungsbeitrag. In der Regel beteiligt die Marktverantwortung das Team, um so zu guten und gemeinsam getragenen Entscheidungen zu kommen. Aber selbstverständlich gibt es unterschiedliche Verantwortungsdimensionen. Verantwortlich zu sein, bedeutet dann natürlich auch, dass man bei misslungenen Entscheidungen nicht das Team vorschieben kann. Idealerweise liegen die Fakten auf dem Tisch, und es ist evident, was zu tun ist.

“Verantwortlich zu sein, bedeutet dann natürlich auch, dass man bei misslungenen Entscheidungen nicht das Team vorschieben kann.”

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Über die Arbeitszeit entscheidet auch der oder die Marktverantwortliche?

Der Prozess zur Gestaltung der Arbeitszeiten ist digitalisiert, aber nicht die Marktverantwortlichen oder die Gebietsverantwortlichen entscheiden, wann wer wie arbeitet, sondern das Marktteam vor Ort. Genau genommen entscheidet der Kunde oder die Kundin. Denn wir können mit einem Blick in die Vergangenheit und aufgrund von Prognosen mit einem ganz guten Vorlauf antizipieren, wie viele Kundinnen und Kunden über den Tag zu unterschiedlichen Zeiten da sein werden. Das Team weiß also, ob eine oder mehrere Kassen besetzt werden müssen, wann Ware angeliefert und eingeräumt wird und wann Präsentationen aktualisiert werden sollen. In diesen Bedarfsplan tragen die Mitarbeitenden selbstständig ein, wann und wie sie arbeiten werden. Auch das ist Ausdruck von freier Entscheidung und unternehmerischem Denken bei den Mitarbeitenden.

“Im Bedarfsplan tragen die Mitarbeitenden selbstständig ein, wann und wie sie arbeiten werden. Auch das ist Ausdruck von freier Entscheidung und unternehmerischem Denken bei den Mitarbeitenden.”

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Ist dieser Weg konfliktträchtiger als eine Chefentscheidung?

Wo Menschen zusammenkommen, da kann es zu Konflikten kommen. Die Mitarbeitenden bringen ihre persönlichen Bedürfnisse mit denen des Teams und vor allem der Kundinnen und Kunden in Einklang. Diese Form der Beteiligung ist meines Erachtens nicht konfliktträchtiger, als wenn eine Führungskraft priorisiert.

Welche Führungsqualifikation braucht jemand, der selbstständiges Arbeiten verantwortet?

Liebe zum Menschen.

Liebe zum Menschen? Da kann ich auch Lehrerin werden.

Das stimmt. Bei dm zu arbeiten, ist nicht der einzige Job, der glücklich machen kann. Alle im Team brauchen organisatorisches Geschick und ein Verständnis für betriebswirtschaftliche Zusammenhänge. Und wer mit Menschen zusammenarbeitet, sollte offen dafür sein, sich mit den Sorgen und Anliegen sowohl der Mitarbeitenden als auch der Kundinnen und Kunden zu befassen. Das subsumiere ich unter Liebe zu Menschen.

“Wer mit Menschen zusammenarbeitet, sollte offen dafür sein, sich mit den Sorgen und Anliegen sowohl der Mitarbeitenden als auch der Kundinnen und Kunden zu befassen.”

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Erlaubt die Governance, dass sich ein Marktleiter von einem Mitarbeiter trennt und eine Abfindung in einer Höhe zahlt, die Ihnen nicht schmeckt?

Die Marktverantwortlichen halten in jedem Fall Rücksprache mit ihren Gebietsverantwortlichen. Denn sie tragen die disziplinarische (Mitarbeiter‑)Verantwortung. Die Gebietsverantwortlichen wiederum stimmen sich mit den Regionsverantwortlichen eng ab, falls es Differenzen mit einem oder einer Marktverantwortlichen gibt. Strukturell unterscheiden wir also zwischen der disziplinarischen und der fachlichen Führung. Was Abfindungen angeht, haben wir transparente Grundsätze. Ansonsten arbeiten wir tatsächlich sehr wenig mit Anweisungen. Früher haben wir unsere Art der Zusammenarbeit Empfehlungskultur genannt, heute sprechen wir von Überantwortung.

Überantwortung schafft den Rahmen, in dem sich Führungskräfte bewegen?

Es gibt einen gewissen Standard, der sich etabliert hat. Es ist sinnvoll, mit diesem erst mal zu beginnen und sich von dort aus weiterzuentwickeln. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von „Marketing und Beschaffung“ aus nationalen Abverkaufsdaten darauf schließen, wo im Markt wie viele Flaschen von einem Shampoo stehen sollten, so kann der Marktverantwortliche in Eggenfelden das für seinen Markt, seine Kundinnen und Kunden sowie seine Abläufe anders weiterentwickeln als der in Dresden.

Fehler passieren

Wie hart wird die Reaktion, wenn ich eine Fehlentscheidung treffe?

Fehler passieren. Hinterher ist man immer schlauer. Wenn jemand nicht gerade sämtliche Warnungen, Hinweise oder Augenscheinlichkeiten über Bord geworfen hat, bevor er das getan hat, was er getan hat, dann ist es die Natur der Entscheidung, dass du zwei potenziell gleichwertige Möglichkeiten hast. Aber wenn sich die Entscheidung als Irrweg herausstellt, dann muss man sie korrigieren. Dann muss man ins Gespräch kommen und reflektieren, an welcher Stelle wir eine Feedbackschleife oder einen Meilenstein hätten einführen können. Daraus lernen wir.

Also heißt das Thema Entscheidungskultur?

Entscheidungs- und Verantwortungskultur. Der eine fragt „Was kommt danach?“, der andere nur „Ist es recht?“ – so unterscheidet sich der Freie vom Knecht. Ganz nach Theodor Storm.

Stresst in diesen Verantwortungsdimensionen die gesetzlich geregelte Mitbestimmung durch Betriebsräte?

Betriebsräte haben wir seit 2001. Die Gremien sind so organisiert, dass jeder räumliche Betrieb – also jedes Verteilzentrum sowie das Dialogicum – als eigener Betrieb gilt. Die Märkte sind zusammengefasst in Betriebsratsbereiche: Nord, Mittel, Ost, Süd-Ost und Süd-West. Ein regionaler Betriebsrat betreut rund 10 000 Mitarbeitende. Wie Betriebsräte wahrgenommen werden, hängt stark von der eigenen Einstellung ab. Wer sie lediglich als Hindernis betrachtet, wird sie auch so erleben. Wer ihre Arbeit hingegen als konstruktiven Beitrag und als gesetzlich verankerten Auftrag versteht, schafft die Grundlage für eine deutlich bessere Zusammenarbeit. Da werfen Menschen noch einmal einen anderen Blick auf die Mitarbeitenden und die Vision, wofür das Unternehmen eigentlich da ist und wie wir zusammenarbeiten wollen. Unser Gründer Götz Werner sagte immer: „Jeder hat den Betriebsrat, den er verdient.“

“In unserer Unternehmensphilosophie stand früher Klarheit und Eindeutigkeit. Jetzt steht da Transparenz und Geradlinigkeit. Das ist ein feiner, aber ein wesentlicher Unterschied.”

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Dennoch gibt es den Dauerkonflikt mit dem Betriebsrat im Verteilzentrum Weilerswist, über den der Kölner Stadtanzeiger berichtet.

Wenn ich es quantifizieren würde, sind von 100 Prozent Gerichtsverfahren, die zwischen Betriebsräten und Unternehmen bei uns laufen, 99 in diesem Betrieb, einem unserer vier Verteilzentren. Generell gilt: Je mehr Transparenz Sie schaffen und je früher Sie die Menschen einbinden bei dem, was Sie vorhaben, desto stärker ist das gemeinsame Commitment. In unserer Unternehmensphilosophie stand früher Klarheit und Eindeutigkeit. Jetzt steht da Transparenz und Geradlinigkeit. Das ist ein feiner, aber ein wesentlicher Unterschied.

Werden Ihre Arbeitsweise und Ihr Führungsverständnis in der hybriden Arbeitswelt weiter funktionieren?

Gerade und erst recht. Je größer die physische Entfernung, desto mehr spielen Zutrauen und Vertrauen eine Rolle. Wenn jemand im Homeoffice oder mobil arbeitet, lautet die Lösung Vertrauensarbeitszeit. Wir ermöglichen auch in unseren Märkten mobiles Arbeiten. Wenn die Mitarbeitereinsatzplanung finalisiert werden muss, wenn die Märkte ihre Planung abschließen, wenn Mitarbeitende digital an Lernveranstaltungen teilnehmen, das kann man auch von woanders aus machen. Wir glauben daran, dass es einen Widerhall gibt von dem Vertrauen, das wir schenken.

“Je größer die physische Entfernung, desto mehr spielen Zutrauen und Vertrauen eine Rolle.”

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Vertrauen ist ein Werbe-Instrument fürs Recruiting.

Strategisch sind wir in der angenehmen Situation, dass immer mehr Menschen so arbeiten wollen, wie wir tatsächlich heute schon zusammenarbeiten, also mit mehr Zutrauen und weniger Kontrolle. Damit meine ich jetzt nicht blindes Vertrauen, sondern davon auszugehen, dass Menschen mir grundsätzlich mit guten Absichten begegnen. Das ist gerade in Einzelhandelsunternehmen nicht ganz irrelevant. Genau deswegen denke ich, dass wir in der Art, wie wir zusammenarbeiten, sehr attraktiv sind für viele Menschen. Immerhin haben sich vergangenes Jahr 360 000 Menschen beworben.

Das kann nicht nur Mundpropaganda sein.

Wir bespielen diverse Kanäle: Unsere Karriereseite dm‑jobs.de, Social Media, mehrere Recruiting- und Talentplattformen sowie Werbemittel in unseren dm-Märkten. Aber letztendlich kann uns nichts Besseres passieren, als wenn viele Tausend Mitarbeitende erzählen, wie froh sie sind, jeden Tag in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem sie so ernst und wahrgenommen werden, wie wir uns jeden Tag bemühen, es zu tun. Ich bin ein großer Skeptiker gegenüber Prämien zur Mitarbeitergewinnung. Als Teil einer Gemeinschaft, für die ich mich bewusst entschieden habe und von der ich sage „Hier bin ich Mensch“, muss ich doch ein höchst vitales Eigeninteresse daran haben, dass Leute dazukommen, von denen ich denke, dass sie die Gemeinschaft stärker machen.

“Letztendlich kann uns nichts Besseres passieren, als wenn viele Tausend Mitarbeitende erzählen, wie froh sie sind, jeden Tag in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem sie so ernst und wahrgenommen werden, wie wir uns jeden Tag bemühen, es zu tun.”

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Ritterschlag für die Unternehmensfamilie

Werden Familienangehörige in die dm‑Gemeinschaft aufgenommen?

Gibt es ein größeres Kompliment, als wenn jemand sein eigenes Familienmitglied in die Gemeinschaft einbringen möchte? In Konstanz arbeiten sieben Familienmitglieder in unterschiedlichen dm-Märkten. Das ist der Ritterschlag. Da arbeite ich noch dran: Meine Frau ist bei dm, mein Bruder ist bei dm, meine Schwägerin ist bei dm, und zwischendurch hat mein Vater mich mit „Chef!“ überrascht. Als Rentner hat er im Corona-Schnelltestzentrum als Tester dm unterstützt.

Was jeden Neuling trifft, ist die Unternehmensbroschüre mit lauter dm-spezifisch definierten Worten.

Da hilft unser Wörterbuch, das es auch digital gibt. Zudem bieten wir Kolleginnen und Kollegen einige Lernangebote an. Tatsächlich versuchen wir, nicht dogmatisch damit umzugehen. Aber da wir mit ihnen die Welt begreifen, haben wir schon ein paar Begriffe, auf die wir wirklich achten. Arbeitsgemeinschaft statt Arbeitgeber, Marktverantwortlicher statt Filialleiter, Mitarbeitereinkommen statt Personalkosten oder Lernling statt Auszubildender. Diese Worte zeigen die Art, wie wir zusammenarbeiten wollen. Immer wieder taucht etwa die Frage auf, warum wir von Erneuerung sprechen und nicht von Transformation. Bei der Erneuerung denkst du aus dem, was sein könnte, und schaust dann, wie das zusammenpasst. Eine Transformation setzt auf dem Bestehenden auf. Sie ist geprägt von dem Denken, wie viel ich verändern kann, ohne dass es richtig weh tut.

“Arbeitsgemeinschaft statt Arbeitgeber, Marktverantwortlicher statt Filialleiter, Mitarbeitereinkommen statt Personalkosten oder Lernling statt Auszubildender. Diese Worte zeigen die Art, wie wir zusammenarbeiten wollen.”

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Wenn Veränderung weh tut, erzeugt das leicht Panik.

Man muss beides beachten, denn wenn man das Ziel der Erneuerung aus den Augen verliert, transformiert man, ohne dass man das Neue so richtig in den Kopf kriegt. Es ist wichtig, diese Umdeutung zu praktizieren. Krisenpermanenz und Resilienz sind die großen Überschriften.

Woher holen Sie die Ideen zur Erneuerung in HR?

Ich lese relativ viel. Kongresse besuche ich selten. Meine Tochter ist noch nicht ganz so alt, deswegen versuche ich, nicht zu oft über Nacht weg zu sein. Man kann sich Anleihen aus den großen Tech-Unternehmen holen. Wie haben sie es geschafft, derart zu wachsen und trotzdem diesen innovativen Spirit aufrechtzuerhalten? Kollegiale Führung ist interessant, ebenso Selbstorganisation und Self Services. Bei allem geht es darum, eine stärkere Menschenzentrierung herstellen zu können. Unser Ressort Mitarbeiter ist die Forschungs- und Entwicklungsabteilung für Zusammenarbeitsformen. Wie sich das in der Zukunft gestaltet mit mehr Cloud, weniger On-Premise-Lösungen, das müssen wir uns angucken.

“Bei allem geht es darum, eine stärkere Menschenzentrierung herstellen zu können. Unser Ressort Mitarbeiter ist die Forschungs- und Entwicklungsabteilung für Zusammenarbeitsformen.”

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Unser Job ist es, dass die Struktur nicht so fest wird, dass es jedes Mal eine Revolution geben muss, um etwas zu verändern, sondern dass sich das Vereinbarte evolutionär weiterentwickeln und gegebenenfalls auch erneuern kann. Damit beschäftigen wir uns bei mir im Ressort – neben der Frage, wie wir es schaffen, die standardisierten Abläufe, etwa in der Entgeltabrechnung, so produktiv wie möglich zu machen.

Wie beziehen Sie die junge Generation ein in Ihre Überlegungen?

Den Wohlstand langfristig zumindest halten, sich einbringen, leistungsorientiert und wirksam arbeiten – das sind Themen für alle. Natürlich wünschen sich die meisten am besten eine Nulltagewoche. An solchen extremen Wünschen machen wir Phänomene deutlich, aber die eignen sich eher zur Spaltung als zur Synergie. Die eigentliche Frage ist, wie wir das Wünschenswerte mit dem Machbaren in Einklang bringen.

“Den Wohlstand langfristig zumindest halten, sich einbringen, leistungsorientiert und wirksam arbeiten – das sind Themen für alle.”

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Welche Leistungen gibt es neben dem Gehalt?

Die Dauer und Lage der Arbeitszeit am Tag sind gute Instrumente, die Bedürfnisse von Mitarbeitenden und Arbeitsgemeinschaft im Mitarbeitereinsatzplan übereinzubringen. Bei der Kinderbetreuung und bei pflegebedürftigen Eltern kann temporär oder länger im Team vereinbart werden, was machbar ist. Das funktioniert nicht über eine bundesweite Betriebsvereinbarung, weil die Bedürfnisse zu individuell sind und die Bedingungen von Bundesland zu Bundesland, sogar von Ort zu Ort zu unterschiedlich.

Betriebsvereinbarungen und Gesetze bestimmen den Rahmen.

Beide können ihren Wert in Transparenz und Geradlinigkeit haben. Aber es kommt auf die Grundhaltung an. Gleiche Arbeit muss gleich bezahlt werden, unabhängig vom Geschlecht. Dafür braucht es für mich persönlich kein Gesetz, auch wenn es erfreulich ist, dass es eines gibt. Wenn allerdings gesetzlich vorgeschrieben werden soll, mit jedem Mitarbeiter jährlich ein strukturiertes Entwicklungsgespräch zu führen und dieses in der Mitarbeiterakte zu dokumentieren, stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Mehrwert. Wir werden auch mit dieser Vorgabe umgehen, doch der Nutzen einer derart umfassenden Formalisierung ist für mich nicht ersichtlich.

Nachhaltigkeit: Seit Jahrzehnten ein Thema

ESG, CSRD – es stürmen immer mehr Regelungen auf Unternehmen ein.

Zur Nachhaltigkeit, also der darunterliegenden Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen, machen wir uns schon seit Jahrzehnten Gedanken – nicht nur mit Blick auf die ökologische, sondern auch auf die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit. Das ist ein bisschen aufwendig, das alles noch in den Bericht zur Zukunftsfähigkeit zu packen. Da ist 2025 ein umfangreiches Werk erschienen. Aber letztendlich steht da nur das, womit wir uns ohnehin jeden Tag beschäftigen.

Und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?

Da arbeiten wir schon lange dran. Wer eine Homepage baut oder einen anderen digitalen Zugang und Barrieren schafft, der hat das Prinzip nicht verstanden. Ein paar Standards unterstützen Menschen mit Handicap, das ist lebenspraktisch.

Geht die aktuelle Mindestlohndebatte an Ihnen vorbei?

Total, weil wir unseren eigenen Mindestlohn haben. Wir sind bei dm schon seit mehreren Jahren bei 14 Euro.

Der gesetzliche Mindestlohn steigt 2026 auf 13,90 Euro und 2027 auf 14,60 Euro. Sie werden eingeholt.

Wir haben diese Entwicklung im Blick.

Sie gehören also nicht zu den Kritikern, die den Untergang des Abendlandes ob der Finanzregeln und der Bürokratie fürchten?

Bürokratie ist per se weder gut noch schlecht. Wir versuchen, einen Beitrag zu leisten, damit es zu einem Abbau nicht notwendiger bürokratischer Regelungen kommt. Wir sollten den Grundsatz eines Gesetzes-Freeze haben: Für jedes neue Gesetz müsste ein anderes abgeschafft werden. Oder zumindest eine Sunset-Klausel: Dieses Gesetz gilt nur befristet und muss dann einer Revision unterzogen werden. Und wenn es niemand wirklich braucht, dann ist es einfach wieder weg. Das würde ein ganz anderes Bewusstsein schaffen.

“Bürokratie ist per se weder gut noch schlecht. Wir versuchen, einen Beitrag zu leisten, damit es zu einem Abbau nicht notwendiger bürokratischer Regelungen kommt.”

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Träumen Sie für Ihr HR-Umfeld auch von Sunset-Klauseln?

Ja, in einem strukturierten Prozess. Und zwar so, dass man sich nicht die ganze Zeit um sich selbst und seine Regelungen dreht. Aber so, dass man regelmäßig das Gewordene konstruktiv kritisch hinterfragt. Dafür setze ich mich ein.

Damit sind wir wieder beim Erneuern.

Absolut. Wir räumen alles weg und machen es noch einmal neu. Wie schon George Bernard Shaw sagte: „Der einzige vernünftige Mensch, den ich kenne, ist mein Schneider, der nimmt jedes Mal neu Maß.“ Vereinbarungen haben ihren Wert. Sonst hätten wir Anarchie. Ganz ohne Regeln in der Gesellschaft und Vereinbarungen in der Arbeitsgemeinschaft geht es nicht. Wir sehen als Wirtschaftsgemeinschaft die ständige Anforderung, ein Unternehmen zu gestalten, durch das wir vorbildlich in unserem Umfeld wirken wollen als Teil der Gesellschaft.

“Wir wollen vorbildlich in die Gesellschaft wirken, ohne zu moralisieren und ohne Anspruch darauf, dass es nur richtig ist, wie wir es machen.”

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Wie leben Sie das?

Wir schaffen Voraussetzungen, damit Menschen sich bürgerschaftlich engagieren können. Bei der Bundestags- und bei der Europawahl haben Wahlhelfer die Zeit, die sie als Wahlhelfer brauchten, als Arbeitszeit gutgeschrieben bekommen. Wir sind in IHK-Prüfungsausschüssen. Regelmäßig stehen wir im Austausch über die Frage der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, die ich vom Grundsatz her begrüßen würde. Wir arbeiten, auch wenn wir nicht Mitglied sind, mit dem Handelsverband Deutschland HDE zur Frage von zukunftsfähiger Ausbildung zusammen. Wir wollen vorbildlich in die Gesellschaft wirken, ohne zu moralisieren und ohne Anspruch darauf, dass es nur richtig ist, wie wir es machen.

Engagement für Demokratie

Wie stehen Sie als Familienunternehmen zu politischen Äußerungen?

Wir betätigen uns nicht parteipolitisch, geben keine Wahlempfehlungen. Aber mit unseren Wahlhelferinitiativen sind wir politisch. Denn wir sprechen uns ganz klar für die Staatsform aus, in der wir leben: für die Demokratie. Und es ist auch klar, dass die Freiheit, in der wir leben, nicht vom Himmel fällt, sondern dass man etwas dafür tun muss, auch als Unternehmen. Zum 75‑jährigen Jubiläum des Grundgesetzes 2024 hatten wir unsere Kampagne „Die wichtigsten Artikel stehen nicht bei dm im Regal, sondern im Grundgesetz“. Und mit der Initiative „Lust an Zukunft“ engagieren wir uns für den Dialog zwischen den Generationen.

“Mit der Initiative „Lust an Zukunft“ engagieren wir uns für den Dialog zwischen den Generationen.”

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Ist dieses Engagement das, was von der anthroposophischen Ausrichtung bleibt, die dm‑Gründer Götz Werner mitgedacht hat? In Ihren aktuellen „Impulsen“ wird Anthroposophie-Gründungsvater Rudolf Steiner zitiert, und der Schweizer anthroposophische Philosoph Stefan Brotbeck steuert Ideenskizzen zu Denken und Handeln bei.

Wir sind kein anthroposophisches Unternehmen, aber wir lassen uns von anthroposophischen Ideen inspirieren. Das hat Tradition seit der Gründung, denn auch Götz Werner war nicht Anthroposoph, sondern hat sich von den Ideen Steiners inspirieren lassen. Wenn Menschen als Quereinsteiger zu uns kommen, also nicht die Ausbildung bei uns gemacht haben, steht häufig die Frage im Raum: „Da, wo ich herkomme, durfte ich nur, was ausdrücklich erlaubt war. Und jetzt soll ich plötzlich alles dürfen, was nicht ausdrücklich verboten ist. Darf ich das wirklich?“ Das muss man erleben. Ums eigene Denken wird man nicht erleichtert. Das würde unserem Menschenbild widersprechen, das die Liebeserklärung an die Freiheitsfähigkeit im Menschen ist.

“Ums eigene Denken wird man nicht erleichtert. Das würde unserem Menschenbild widersprechen, das die Liebeserklärung an die Freiheitsfähigkeit im Menschen ist.”

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Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Ralf Steuer und Ruth Lemmer