Der Zweite Vorsitzende und Personalvorstand der IG Metall Jürgen Kerner zu den vergangenen und der aktuellen Tarifrunde in der Stahlindustrie

In kriselnden Industrien kämpfen die IG Metall und deren Zweiter Vorsitzender Jürgen Kerner dafür, dass Unternehmen im Rahmen der Mitbestimmung einvernehmlich mit der Arbeitnehmerseite nach Lösungen suchen und betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden. Von der neuen Bundesregierung erwartet er, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland zu verbessern. Und von den Unternehmen, das in den vergangenen Jahren verdiente Geld mutig in Zukunftstechnologien und neue Märkte zu investieren. 

Jürgen Kerner ist Zweiter Vorsitzender der IG Metall und unter anderem zuständig für Personal der Organisation sowie für Industriepolitik und Branchenarbeit. Er hat bei Siemens eine Ausbildung zum Informationselektroniker abgeschlossen und vertritt dort im Aufsichtsrat die Arbeitnehmerseite. Daneben bekleidet Kerner Aufsichtsratsmandate bei Thyssenkrupp, Siemens Energy, MAN Truck & Bus und Traton.

Herr Kerner, die IG Metall hat turbulente Monate hinter sich – VW, Thyssenkrupp Steel. In der Stahlbranche sowie in der Metall- und Elektroindustrie wurden moderate Lohn- und Gehaltserhöhungen vereinbart. Hat die IG Metall akzeptiert, dass in schwächelnden Industrien die Lohnkosten ein Problem sind?

Jürgen Kerner Wir haben Herausforderungen in der deutschen Industrie, aber diese auf das Thema Lohnkosten zu reduzieren, halte ich für zu einfach. Die Entwicklung der Energie- und Materialkosten fällt da viel stärker ins Gewicht. Der Druck auf die Löhne kommt immer dann, wenn die anderen Komponenten nicht beeinflussbar sind – und wenn die Unternehmen das Gefühl haben, sie müssen sich dauerhaft auf ein niedrigeres Umsatzniveau einrichten. Wenn es in einem Unternehmen wirtschaftliche Probleme gab, haben wir uns als IG Metall nie weggeduckt. So war auch die letzte Tarifrunde eine mit Augenmaß.

Die Stahlindustrie geht 2025 in die nächste Tarifrunde…

Kerner Wir werden in der Stahlindustrie weiterhin mit Augenmaß vorgehen. Wir erwarten aber auch, dass die Unternehmen zu ihren Belegschaften stehen. Wir haben in der Stahlindustrie gigantische Kapazitätsanpassungen hinter uns gebracht – ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wir werden auch jetzt darauf achten, dass die Anpassungen sozialverträglich erfolgen.

Es muss uns gelingen, „Drehscheiben“ zu entwickeln, damit die Leute nicht in die Arbeitslosigkeit gehen, sondern direkt von Betrieb A in Betrieb B kommen. Dafür gibt es eine grundsätzliche Bereitschaft bei den Unternehmen, aber es muss auch gelingen, das richtig umzusetzen. Und es darf nicht den Zweck haben, einfach nur Abfindungen zu vermeiden. Eine weitere Option ist, die demografische Entwicklung zu nutzen. Betriebsbedingte Kündigungen wären jedenfalls der falsche Weg. Da gehen die jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

“Wir werden in der Stahlindustrie weiterhin mit Augenmaß vorgehen. Wir erwarten aber auch, dass die Unternehmen zu ihren Belegschaften stehen.”

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Unnötige Eskalation bei VW 

Bei VW und Thyssenkrupp Steel sind die Konflikte eskaliert.

Kerner VW hat eine ausgeprägte Mitbestimmungskultur, gepaart mit höchstem wirtschaftlichem Sachverstand aufseiten der Arbeitnehmervertretung. Das ist die beste Voraussetzung, um zu wirtschaftlich vernünftigen Lösungen zu kommen. Die Eskalation war darum völlig unnötig. Die Planungsrunden im VW-Konzern verliefen bisher am Ende immer einvernehmlich. Wenn das plötzlich infrage gestellt wird, wenn betriebsbedingte Kündigungen und Standortschließungen geplant werden, dann wird Öl ins Feuer gegossen und verhindert, dass die Partner schnell in einen konstruktiven Dialog kommen. Das Gleiche gilt für Thyssenkrupp. Wir haben seit Rheinhausen Kapazitätsanpassungen im Stahlbereich immer ohne Kündigungen geschafft. Leider erlebe ich, dass manche auf der Arbeitgeberseite so viel Ideologie und Klassenbewusstsein an den Tag legen, wie wir uns das bisher nicht vorstellen konnten.

Wären die zwischen der IG Metall und VW erzielten Ergebnisse auch dann gekommen, wenn das VW-Management weniger konfrontativ vorgegangen wäre?

Kerner Davon bin ich überzeugt. Dass wir jetzt dieses Ergebnis haben, stand übrigens auf Messers Schneide. Dass sich die VW-Belegschaft aktiv gegen einen Vorstand stellt, dieser auf Betriebsversammlungen ausgepfiffen wird und auch Ingenieure zu Tausenden zu Kundgebungen kommen, daran merkt man, dass das eine neue Situation ist. Es ist besonnenen Leuten auf beiden Seiten zu verdanken, dass wir nicht in eine weitere Eskalation geschlittert sind. Es war immer die Stärke Deutschlands, dass die Sozialpartner in kritischen Situationen gemeinsam Lösungen gefunden haben. Diese Verschärfung der Auseinandersetzungen sowohl bei VW als auch bei Thyssenkrupp ist nicht notwendig.

“Es war immer die Stärke Deutschlands, dass die Sozialpartner in kritischen Situationen gemeinsam Lösungen gefunden haben.”

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Haben Sie als IG Metall die Probleme, die auf diese Unternehmen zugekommen sind, nicht gesehen oder gar Lösungen verhindert?

Kerner Dass VW eine verfehlte Modellpolitik verfolgt, haben der Betriebsrat, namentlich die Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo, schon vor Jahren kritisiert. Da waren die Zahlen noch gut. Alle miteinander konnten jedoch sehen, dass bezahlbare Elektroautos fehlen und der Golf in die Jahre kommt. Thyssenkrupp krankt seit über zehn Jahren daran, dass die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, alle Geschäfte weiterzuentwickeln. Dass eine aussichtsreiche Geschäftsstrategie an der IG Metall gescheitert sei, ist Legendenbildung. Wir hatten immer wieder Wechsel im Management, und immer wieder wurden neue Konzepte favorisiert – so sind Jahre vergangen. Die Arbeitnehmerseite hat sich immer flexibel gezeigt unter der Rahmenbedingung, dass Beschäftigte und die Standorte eine Perspektive bekommen – im Konzern oder außerhalb.#

Wie sieht die Zukunft von Thyssenkrupp Steel aus Sicht der IG Metall aus?

Kerner Für mich ist klar, dass der Stahlbereich bei Thyssenkrupp besser eigenständig aufgestellt wird, als Teil eines Konzerns zu bleiben und diesen aufgrund der Wucht des Stahlgeschäfts ins Schlingern zu bringen. Wir wollen den Stahl verselbstständigen. Allerdings ist die Herausforderung immens, weil große Investitionen anstehen, die es zu finanzieren gilt. Wir werden in Europa zukünftig entweder grünen Stahl produzieren, oder wir werden grünen Stahl einführen, etwa aus China. In dem Fall würden die europäische und deutsche Stahlindustrie abgewickelt.

Mitarbeitende von Betrieb A nach Betrieb B bringen

Bei Thyssenkrupp Steel sollen innerhalb von sechs Jahren 11 000 Jobs wegfallen, ebenso Tausende Stellen bei VW, Ford und vielen Zulieferern. Mit welchem Ziel wollen Sie auf diese Prozesse Einfluss nehmen?

Kerner Die Unternehmen brauchen neue wirtschaftliche Optionen. Nur schrumpfen und Personal anpassen ist nicht die Lösung, das hilft vielleicht kurzfristig. Es erfüllt mich mit Sorge, wenn ich sehe, dass wir aus traditionellen Technologien aussteigen und Arbeitsvolumen verlieren, es aber nicht gelingt, in neue Geschäfte einzusteigen. Wir brauchen wieder Zukunftsoptionen für einzelne Branchen und für einzelne Unternehmen. Das hat viel mit politischen Rahmenbedingungen zu tun. Als Allererstes müssen wir die Energiekosten in den Griff kriegen.

“Nur schrumpfen und Personal anpassen ist nicht die Lösung (...). Es erfüllt mich mit Sorge, wenn ich sehe, dass wir aus traditionellen Technologien aussteigen und Arbeitsvolumen verlieren, es aber nicht gelingt, in neue Geschäfte einzusteigen.”

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Was erwarten Sie von den Vorständen in den Unternehmen?

Kerner Wir haben in diesem Land großes Zukunftspotenzial. Wir können Batterie – wie im BMW-Werk in Straßkirchen. Wir können Halbleiter – wie bei ASML in Berlin oder ESMC in Dresden. Das ganze Thema Recycling und Kreislaufwirtschaft wird immer wichtiger werden. Die politischen Rahmenbedingungen sind wichtig, entscheidend sind aber unternehmerisches Können und Weitsicht. Ich erwarte von den Vorständen, dass sie das Geld, das sie in guten Zeiten verdient haben, jetzt konsequent und mutig in neue Geschäftsmodelle und in die Märkte der Zukunft in Deutschland investieren.

Wenn es dann trotzdem in einzelnen Betrieben Personalüberhang geben sollte, müssen wir klug damit umgehen. Eine unserer Stärken in Deutschland ist das hohe Qualifikationsniveau der Beschäftigten. 

“Wir haben in diesem Land großes Zukunftspotenzial (...) Die politischen Rahmenbedingungen sind wichtig, entscheidend sind aber unternehmerisches Können und Weitsicht.”

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Es muss uns gelingen, „Drehscheiben“ zu entwickeln, damit die Leute nicht in die Arbeitslosigkeit gehen, sondern direkt von Betrieb A in Betrieb B kommen. Dafür gibt es eine grundsätzliche Bereitschaft bei den Unternehmen, aber es muss auch gelingen, das richtig umzusetzen. Und es darf nicht den Zweck haben, einfach nur Abfindungen zu vermeiden. Eine weitere Option ist, die demografische Entwicklung zu nutzen. Betriebsbedingte Kündigungen wären jedenfalls der falsche Weg. Da gehen die jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Ob das Drehscheibenmodell – ein Beispiel ist die Allianz der Chancen – wirklich funktioniert, wird kontrovers diskutiert…

Kerner Ich bin überzeugt, der Weg ist grundsätzlich richtig, er ist allerdings nur innerhalb gewisser Korridore gangbar, was Einkommen und Qualifizierung betrifft. Innerhalb von Industriebranchen oder zwischen Industrien und bestimmten industrienahen Dienstleistungen kann er funktionieren. Zu glauben, wir nehmen aus der Industrie Tausende Beschäftigte heraus und bringen sie in gleicher Anzahl im Gesundheits- oder Pflegebereich unter, wäre in der Tat naiv.

Wie nehmen Sie im Rahmen Ihrer Aufsichtsratsmandate den Umgang mit dem Thema Personal und dessen Stellenwert wahr?

Kerner Unternehmen, die nicht im Krisenmodus sind, sondern sich intensiv mit der Zukunft beschäftigen können, widmen dem Thema Personalmanagement immer größere Aufmerksamkeit. Wenn dort über Produkte und Technologien der Zukunft geredet wird, geht es sehr schnell auch um die passende Personalstrategie: Wer kann das machen? Haben wir die richtigen Leute? Welche Teile der Belegschaft müssen wir wie weiterentwickeln? 

“Unternehmen, die nicht im Krisenmodus sind, sondern sich intensiv mit der Zukunft beschäftigen können, widmen dem Thema Personalmanagement immer größere Aufmerksamkeit.”

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In einem Unternehmen wie etwa der Siemens AG spielt Personalarbeit eine enorme Rolle im Aufsichtsrat. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite haben hier ein gemeinsames Verständnis dafür, dass Wandel im Hightechbereich eine sehr hohe Geschwindigkeit hat, dass frühzeitig überlegt werden muss, wie die Belegschaften mitgenommen werden können, damit der Anpassungsdruck später nicht so groß wird, dass Interessensausgleich und Sozialpläne notwendig werden.

Schneller und mehr arbeiten?

Die Arbeitsproduktivität hat in Deutschland, besonders in der Industrie, an Dynamik verloren. Was kann Personalarbeit dagegen tun?

Kerner Das Thema Produktivität ist für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie oder auch in der chemischen Industrie ja nichts Neues. Wir haben in diesen Branchen, die in einem weltweiten Wettbewerb stehen, mit die höchsten Einkommen. Und die stehen in Zusammenhang mit einer hohen Produktivität. Eine Ausweitung der Arbeitszeit führt in der Regel eher dazu, dass die Produktivität sinkt. Für uns und auch für die Personalverantwortlichen ist völlig klar, dass wir immer wieder überlegen müssen, wie wir effizienter arbeiten können. Es geht darum, Technik produktiv einzusetzen, die Prozesse zu verschlanken, Abläufe zu verbessern. Einfach schneller oder mehr zu arbeiten, ist nicht der richtige Weg.

“Für uns und auch für die Personalverantwortlichen ist völlig klar, dass wir immer wieder überlegen müssen, wie wir effizienter arbeiten können. Es geht darum, Technik produktiv einzusetzen, die Prozesse zu verschlanken, Abläufe zu verbessern.”

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Haben wir ein Leistungsproblem in Deutschland, wie zuweilen angesichts des Krankenstands zu hören ist?

Kerner Das zu behaupten, ist aus meiner Sicht unanständig und unangebracht. Ich lade jeden ein, der diese Diskussion führt, sich die Realität in den Betrieben anzuschauen: Schichtarbeit ist selbstverständlich, Wochenendarbeit ist selbstverständlich, es werden Millionen von Überstunden geleistet, die nicht bezahlt werden. Darum finde ich auch den Vorstoß von CDU/CSU so spannend, zukünftig jede Überstunde steuerlich zu begünstigen. Dafür müsste ja zunächst jede Überstunde überhaupt erst bezahlt werden! 2023 war mit 775 Millionen Stunden mehr als die Hälfte aller geleisteten Überstunden unbezahlt. Auch die Vorurteile gegenüber der jungen Generation halte ich für unfair. Da gibt es sehr viele, für die es völlig selbstverständlich ist, mit 16 oder 17 Jahren eine Ausbildung zu machen, oder die sehr engagiert im Studium sind.

Was hohe Krankenstände angeht: Wenn sich Personalverantwortliche und Betriebsräte darüber ehrlich austauschen, finden sie in der Regel schnell spezifische Gründe, warum in dem einen Betrieb der Krankenstand hoch ist und in einem anderen Betrieb – teilweise des gleichen Unternehmens – deutlich niedriger. Ein hoher Krankenstand sagt oft viel darüber aus, wie der Umgang miteinander im Betrieb ist. Die verkorkste Leistungsdebatte ist schädlich, sie lenkt davon ab, dass wir dringend die Zukunftsthemen in den Betrieben angehen müssen.

“Ein hoher Krankenstand sagt oft viel darüber aus, wie der Umgang miteinander im Betrieb ist.”

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Fehlende Krisenerfahrung bei Personalmanagern

Die Personalfunktion sieht sich nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, verwaltend statt gestaltend zu agieren. In den Aufsichtsräten nicht?

Kerner Das ändert sich. In zukunftsorientierten Unternehmen erlebe ich eine Renaissance der Personalarbeit. Klar, es gibt die klassischen Verwaltungstätigkeiten im Personalbereich. Aber entscheidend sind die Themen Qualifizierung, vorausschauende Personalplanung, Personalentwicklung, Flexibilität der Mitarbeitenden und deren Identifikation mit dem Unternehmen. Sie machen neben der Technologie den großen Unterschied und sind entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens.

“In zukunftsorientierten Unternehmen erlebe ich eine Renaissance der Personalarbeit. (...) Entscheidend sind die Themen Qualifizierung, vorausschauende Personalplanung, Personalentwicklung, Flexibilität der Mitarbeitenden und deren Identifikation mit dem Unternehmen.”

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Wenn die Kultur nicht passt, wenn der Umgang miteinander nicht stimmt, wenn Menschen das Gefühl haben, sie würden von A nach B geschoben, sie seien bloß eine Personalnummer, dann gehen die Guten. Aus meiner Sicht müssen Personalverantwortliche Mitglied der Leitungsteams sein, weil das Thema Geschäft und Mensch auf eine Ebene gehört. Wir haben übrigens heute vielfach Personalverantwortliche, die gar nicht mehr die Erfahrung mitbringen, große Krisen vernünftig und sozialverträglich zu bewältigen.

Die Probleme ganzer Industrien sind vielfältig: Produktivität, Energie- und Lohnkosten, Regulatorik. Kommt Ihre Forderung nach einer erweiterten KI-Mitbestimmung nicht zur Unzeit?

Kerner Mehr Mitbestimmung bedeutet nicht weniger betrieblicher Handlungsspielraum und auch nicht weniger Schnelligkeit. Dort, wo wir als Arbeitnehmervertretung Mitbestimmungsmöglichkeiten haben, können die Sozialpartner Themen so gestalten, dass nicht immer über Einzelfälle gesprochen werden muss, sondern für diese ein Rahmen und Spielregeln auf Unternehmensebene vereinbart werden. Das gilt gerade für Technologiethemen, wo es um Geschwindigkeit geht. Wir müssen auf beiden Seiten auch ausprobieren dürfen. Das geht am besten, wenn Leitplanken statt Details vereinbart werden. Wir brauchen KI und Digitalisierung, um unsere Geschäftsmodelle in die nächste Runde zu bringen. Wir brauchen eine effizientere Mitbestimmung – daran muss sich auch meine Seite messen lassen.

“Wir brauchen KI und Digitalisierung, um unsere Geschäftsmodelle in die nächste Runde zu bringen. Wir brauchen eine effizientere Mitbestimmung – daran muss sich auch meine Seite messen lassen.”

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Was wollen Sie konkret neu in der betrieblichen Mitbestimmung geregelt haben?

Kerner Erstens muss ermöglicht werden, dass Betriebsräte sich in dem Thema KI adäquat qualifizieren lassen können. Wir müssen da insgesamt den Sachverstand auf unserer Seite erhöhen. Zweitens muss die Arbeitnehmerseite beim Thema KI eingebunden sein. Was sind die Algorithmen im Hintergrund einer KI? Welche Parameter liegen ihr zugrunde? KI ist ja nicht zwingend neutral. Eine KI wird von Menschen programmiert und lernt Verhaltensweisen. Diese Offenlegung ist das, was gebraucht wird, um Vertrauen zu schaffen und ein gemeinsames Verständnis für die Arbeit mit KI zu entwickeln. Wenn KI in der Personalarbeit eingesetzt wird, dann muss gemeinsam sichergestellt werden, dass diese – überspitzt ausgedrückt – nicht nur auf Daten von mittelalten weißen Männern wie mir fußt.

Wo können Betriebe in der Konjunkturschwäche und in der Transformation in ihrer Personalarbeit entlastet werden?

Kerner Es war und ist ein guter Ansatz, zu sagen, der Gesetzgeber regelt die groben Leitplanken, und alles andere regeln die Sozialpartner. Dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen, ist insofern kein Zeichen der Stärke der Sozialpartner. Ich erwarte vom zukünftigen Gesetzgeber, dass er den „Berichtsmarathon“, den es in den Unternehmen gibt und der auch die Personaler betrifft, deutlich effizienter gestaltet. Wir müssen doppelte Berichtspflichten zwischen konkurrierenden Programmen und zwischen nationaler und europäischer Ebene vermeiden. Und wir müssen die Berichtswege digitalisieren. Dass wir Bürokratie vereinfachen und verschlanken müssen, hat wohl inzwischen jeder akzeptiert. Trotzdem stehen wir uns in Deutschland bei dem Thema selber im Weg. Wenn Brüssel etwas verordnet, dann toppen wir das nicht selten auf der hiesigen staatlichen Ebene. Und wenn es dann um die Umsetzung geht, legen die Unternehmen noch mal etwas an Regelungssicherheit obendrauf. Davon müssen wir wegkommen. Auch ein effizienter und funktionierender Staat würde viel vereinfachen. Bürokratieabbau ist zwingend nötig, er ist aber nicht von heute auf morgen zu realisieren.

“Bürokratieabbau ist zwingend nötig, er ist aber nicht von heute auf morgen zu realisieren”

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Darum geht es in einem Hunderttageprogramm der neuen Bundesregierung zunächst um etwas anderes: Es geht um die Frage, in welchem Umfang wir in Zukunft überhaupt noch Industriearbeit in Deutschland haben. Es geht um Energiekosten, um Investitionen in die Infrastruktur, die nicht nach Kassenlage erfolgen sollten, um Innovationsförderung.

Die Tarifparteien fungieren selbst als Regulatoren. Wo sehen Sie in Krisenzeiten Möglichkeiten, der betrieblichen Ebene mehr Spielraum zu lassen?

Kerner Wer sich beklagt, dass ein Tarifvertrag zu starr sei, dem empfehle ich, mit mir einmal gemeinsam einen Tarifvertrag zu lesen. Ich verspreche, wir werden feststellen, dass der Tarifvertrag einen sehr vielfältigen, flexiblen Werkzeugkasten für den einzelnen Betrieb bereithält. Entscheidend ist, dass es ein gemeinsames Verständnis darüber gibt, wie der Tarifvertrag zu lesen ist. Tarifverträge sind in der Regel viel moderner, als viele sich das von außen vorstellen.

Welche vorbildlichen Entwicklungen gibt es bei HR-Trendthemen?

Kerner Wir haben bei der Siemens AG seit Jahren vereinbart, dass betriebsbedingte Kündigungen und Standortschließungen nur mit Zustimmung der IG Metall möglich sind. Und das bei all den fundamentalen Veränderungen, die der Konzern in den vergangenen zehn Jahren durchlaufen hat! Wir diskutieren mit dem Management, wie wir verstärkt mit KI arbeiten wollen und was wie digitalisiert werden soll. Wir haben bei Siemens auch geregelt, dass die Qualifizierung der Beschäftigten ein Kriterium für die Vergütung des Vorstands ist. Wenn in Unternehmen wirklich etwas verankert werden soll, muss das eine Rolle spielen bei der Vergütung auf der oberen Managementebene. Und wir diskutieren bei Siemens darüber, wie wir es schaffen, dass vorausschauende Personalplanung nicht nur ein Schlagwort bleibt. Personalentwicklung und Personalplanung sind für mich Elemente zukunftsweisender Vereinbarungen in der Mitbestimmung.

“Personalentwicklung und Personalplanung sind für mich Elemente zukunftsweisender Vereinbarungen in der Mitbestimmung.”

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AfD und die Arbeiter

Die IG Metall ist trotz stetigem Mitgliederrückgang die weltweit größte organisierte Arbeitnehmervertretung. Welche Rolle spielen HR-Trendthemen für Sie als Personalvorstand der Organisation?

Kerner Wir haben ein Programm, um Frauen in Führungspositionen zu bekommen, zum Beispiel bei jeder Aufsichtsratsbesetzung. Unser erklärtes Ziel: Der Anteil unserer Kolleginnen in den Aufsichtsräten soll 30 Prozent betragen. Wir diskutieren das ebenso für unsere Führungspositionen in der Organisation. Wir arbeiten stetig an unserer Führungskräftequalifizierung für die verschiedenen Levels und für Nachwuchskräfte. Wir haben eine eigene einjährige Traineeausbildung für angehende Gewerkschaftssekretäre und ‑sekretärinnin.

Das Thema Gesundheitsmanagement hat für uns einen hohen Stellenwert. Wir bieten unseren Beschäftigten regelmäßige umfangreiche Gesundheitschecks. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, immer wieder einmal für ein oder zwei Wochen an Gesundheitsseminaren teilzunehmen. Das ist wichtig, denn der weitaus größte Teil der IG‑Metall-Beschäftigten arbeitet vor Ort in den Geschäftsstellen, nah an den Betrieben und Mitgliedern. Dort herrscht oft großer Druck, da gibt es Konflikte, und die Leute erliegen wie häufig in sozialen Berufen der Gefahr, sich zu überfordern.

In manchen Regionen haben wir starke Konflikte mit Kräften, die der AfD nahestehen. Rechtspopulisten versuchen, mit ihren spalterischen, rückwärtsgewandten Ansätzen auch in die Betriebe einzudringen. Die IG Metall ist für sie dann der erklärte Feind. Für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind das harte Auseinandersetzungen. Da geben wir die Möglichkeit, Auszeiten zu nehmen und sich über einen längeren Zeitraum supervidieren zu lassen.

Die AfD hat bei der Bundestagswahl 2025 unter den Arbeitern so viele Stimmen bekommen wie keine andere Partei. Wie erklären Sie sich das?

Kerner Während der Stimmanteil der AfD unter Arbeitern zunahm, gewann die AfD unter Gewerkschaftsmitgliedern nicht überdurchschnittlich. Insbesondere Wähler und Wählerinnen, die ihre wirtschaftliche Situation als schlecht einschätzen, entschieden sich überdurchschnittlich für die AfD. Drohender Arbeitsplatzverlust stellt die Lebensentwürfe der Menschen infrage. Alle demokratischen Kräfte müssen jetzt alles daransetzen, diese Unsicherheiten zu beseitigen. Vor allem die Vorstände und Geschäftsführungen von Unternehmen tragen hohe Verantwortung.

“Drohender Arbeitsplatzverlust stellt die Lebensentwürfe der Menschen infrage. Alle demokratischen Kräfte müssen jetzt alles daransetzen, diese Unsicherheiten zu beseitigen.”

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Haben Sie ebenso wie andere Arbeitgeber Nachwuchssorgen?

Kerner Wir haben unsere Kapazitäten etwa für die Traineeausbildung erhöht, um dem demografischen Wandel, der auch bei uns ansteht, begegnen zu können. Ein Selbstläufer ist die Personalgewinnung aber nicht, das will ich ausdrücklich sagen. Das Profil eines Gewerkschaftssekretärs bei der IG Metall ist anspruchsvoll. Was wir als IG Metall anbieten – vom Aufgabenspektrum über Sozialleistungen bis hin zur Bezahlung –, ist zwar ein durchaus attraktives Paket, aber auch wir merken, dass man heute sehr strategisch und proaktiv vorgehen muss, um die richtigen Personen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen.

“Was wir als IG Metall anbieten (...) ist zwar ein durchaus attraktives Paket, aber auch wir merken, dass man heute sehr strategisch und proaktiv vorgehen muss, um die richtigen Personen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen.”

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Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Ralf Steuer und Rainer Spies.