Die Kraft der Empathie

Warum die Familie (bedingt) als Vorbild für Führung taugt
Menschen lernen nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Beobachtung und Imitation. Dies gelingt auch mithilfe des Mediums Film. Die Transfrau Blanca aus der US-Serie „Pose“ beweist mit viel Empathie, dass eine „Mutterfigur“ einem Team guttun kann.
Die Serie „Pose“, die in drei Staffeln auf dem US-Kabelsender FX ausgestrahlt wurde (in Deutschland aktuell auf Disney+), entführt uns in die 80er- und frühen 90er-Jahre der New Yorker Ballroom-Szene. Es handelt sich um eine in den USA entstandene Bewegung, der insbesondere People of Colour aus der queeren Community angehörten – Menschen, die in dieser Zeit extremen Diskriminierungen ausgesetzt waren und am Rande der Gesellschaft standen. Mit der Ballroom-Szene erschufen sie sich einen sicheren Ort, an dem ihre eigenen Regeln galten, wo sie sein konnten, wie sie sind, und Gemeinschaft erlebten. Die Ballroom-Szene hat ihren Namen von den sogenannten Bällen, auf denen die Teilnehmenden in Wettbewerben verschiedener Kategorien gegeneinander antraten. Die Teilnehmenden sind jedoch keine Einzelkämpfer*innen, sondern in „Häusern“ organisiert, die von „Müttern“ oder „Vätern“ geführt werden. Diese Häuser sind weit mehr als ein loses Team. Für viele sind sie Familienersatz, da sie häufig von ihren eigenen Familien verstoßen wurden.
Im Zentrum der Serie steht die Protagonistin Blanca, die sich nach ihrer HIV-Diagnose entscheidet, ein eigenes Haus zu gründen und eine „Mutter“ zu werden. Neben dem Ziel, in der Ballroom-Szene erfolgreich zu sein, möchte sie das Haus mit Liebe, Fürsorge und Schutz führen – etwas, das ihr selbst in der Vergangenheit gefehlt hat. Sie nimmt einige sehr talentierte Mitglieder auf, und sie werden schnell erfolgreich in der Szene. In kurzer Zeit schafft Blanca es mit ihren außergewöhnlichen Führungsfähigkeiten, aus einem losen Haufen diverser Menschen mit vielen Problemen ein Team zu kreieren, das nicht nur Wettbewerbe gewinnt, sondern auch füreinander da ist und innerhalb dessen sich alle im Verlauf der Serie persönlich und beruflich entwickeln können.
Leadership Lesson #1
Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
Zum Start der Serie ist Blanca selbst noch Mitglied eines Hauses, in dem sie sich jedoch nicht wohlfühlt, denn die Hausmutter Elektra setzt auf eine Kultur der Konkurrenz statt auf echten Teamgeist. Blanca traut sich irgendwann, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, und verlässt schließlich das Haus, um ein eigenes zu gründen und dieses nach ihren Regeln zu führen. Die meisten Menschen sind gut darin, sich zu beschweren, doch die wenigstens schaffen es, aus Missständen schöpferische Kraft zu entwickeln. Blanca schafft das immer wieder. Im Verlauf der Serie, die in der Hochzeit der Aids-Krise in den USA spielt, macht sie auch eine Ausbildung zur Krankenschwester, um anderen Aids-Patient*innen zu helfen. Trotz widriger Umstände, geprägt durch Diskriminierung, Krankheit und Armut, schafft sie es, Dinge anzupacken und zu verändern und so ein echtes Vorbild für viele andere zu sein.
Leadership Lesson #2
Auch mit Empathie können Wettbewerbe gewonnen werden.
Blanca führt mit Liebe. Ihr Führungsstil ist geprägt von Empathie und einem tiefen Interesse an den Menschen. Sie hilft ihren Teammitgliedern aus schwierigen Situationen, erkennt ihre Talente oft, bevor diese sie selbst erkennen, und unterstützt sie dabei, ihre Stärken auszubilden. Sie ist mitfühlend, verständnisvoll und gütig. Und sie sorgt dafür, dass diese Werte auch innerhalb des Teams gelebt werden. Gleichzeitig wird ein gewisser Ehrgeiz im Haus gepflegt, der wichtig ist, um bei den Wettbewerben auf den Bällen erfolgreich zu sein. So entsteht ein psychologisch sicherer Ort mit einem High Performing Team – auch wenn die Welt um sie herum alles andere als sicher und Erfolg versprechend ist.
Leadership Lesson #3
Nimm soziale Routinen ernst.
In Blancas Haus gelten bestimmte unumstößliche Regeln und Routinen. Besonders wichtig sind die gemeinsamen Abendessen, die unter keinen Umständen ausgelassen werden dürfen. Diese soziale Routine als Vorgabe zeigt, wie wichtig Blanca die Teamentwicklung ist. Beim Abendessen werden ernste Themen besprochen, aber auch Erfolge gefeiert – es handelt sich um eines ihrer wichtigsten Führungswerkzeuge. Ihr Team entwickelt so starke soziale Beziehungen, die Teil ihres Erfolgsgeheimnisses sind.
Leadership Lesson #4
Empowerment bedeutet auch loslassen.
Blanca unterstützt selbstlos alle ihre „Kinder“, sich auch außerhalb der Ballroom-Szene in der wirklichen Welt zu entwickeln und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie tut das zum einen, indem sie an ihre Stärken glaubt und sie ermutigt, aber auch ganz konkret, indem sie Kontakte herstellt oder bei Bewerbungsgesprächen dabei ist. Dabei kommt ihr nie in den Sinn, andere von der eigenen Entwicklung abzuhalten, um sie an sich zu binden oder den eigenen Machtanspruch zu manifestieren. Blanca weiß, dass sie die Menschen auch ziehen lassen muss. So wird zum Beispiel eines ihrer „Kinder“ – Damon – professioneller Tänzer und verlässt das Haus. Blanca hat keine Angst vor diesen Veränderungen, sondern unterstützt diese. Sie sorgt so für eine gesunde Entwicklung in einem Team, das sich auch immer wieder wandeln darf.
Leadership Lesson #5
Kümmere dich um dich selbst.
Neben all der Verantwortung, die Blanca für andere trägt, kümmert sie sich auch um sich selbst. Sie verfolgt ihre persönlichen Ziele und nimmt ihre Gesundheit ernst. Sie eröffnet mit dem Geld, das sie jahrelang gespart hat, ihr eigenes Nagelstudio, nimmt regelmäßig ihre Medikamente und findet einen liebevollen Partner. Blanca schafft, wozu viele Führungskräfte nicht in der Lage sind. Sie weiß, sie kann nur für andere da sein, wenn sie auch für sich selbst da ist. Selbstliebe als Schlüssel zu großartiger Führungsarbeit. Die Führungskräfte in dieser Serie sind gleichzeitig auch Elternersatz und haben somit eine Doppelfunktion.
In Organisationen ist es nicht unbedingt ratsam, Teams als Familien zu führen – eine gewisse Distanz im Beruflichen ist wichtig. Nichtsdestotrotz sind unsere Eltern quasi unsere ersten Führungskräfte im Leben, und gewisse Parallelen zur Führungsarbeit sind nicht von der Hand zu weisen. Manchmal kann es also in Führungssituationen durchaus hilfreich sein, sich zu fragen: Was würde die ideale Mutter oder der ideale Vater jetzt tun?
Johanna Voigt
Corporate-Learning-Beraterin und Führungskräfteentwicklerin bei HRpepper, Berlin